Pawel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive. Ikonographie und Kunst. Mit einem Nachwort von Erzpriester André Sikojev.Aus dem Russischen übers, und hg. von Erzpriester André Sikojev, Philosophia Eurasia, Edition Hagia Sophia, Wachtendonk 2023, 230 Seiten, ISBN -13: 978-3-96321-146-1
Es ist kein Zufall und auch von unschätzbarer Bedeutung, dass Texte von Pawel Florenskij (1882-1937) im Kontext der vielerorts sichtbar werdenden Zeitenwende erneut ans Licht gestellt werden. Sie sind natürlich auch zeitgeschichtlich von größtem Wert als Zeugnis für den umfassenden Horizont eines der bedeutendsten Mathematiker, Physiker, Chemiker, Philosophen und Theologen, den das grausame 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sie sind zugleich beeindruckend als Zeugnis für die christliche Wahrheit, für die Pawel Florenskij unerschrocken Verbannung, Lagerhaft, Folter und schließlich auch den Märtyrertod auf sich genommen hat. Ihr konzentrierter Blick auf das Ganze der orthodoxen Kultur und Lebensweise ist aber auch hilfreich gegenüber der verbreiteten Tendenz, einzelne Elemente wie Ikonen, Gesang oder Fasten, Gebet und Architektur herauszupicken und von der orthodoxen und kirchlichen Lebensweise zu isolieren. Was er schreibt, hat Bedeutung im zeitgenössischen Diskurs ebenso wie für ein grundsätzliches Verständnis der Orthodoxie und ihrer kulturellen Aufgabe überhaupt. Faszinierend dabei ist, dass sein Ausgangspunkt eigentlich ein mathematisch-naturwissenschaftlicher ist, Naturbeobachtung und Wahrnehmung von Raum und Zeit, eine tiefere Sicht auf die Dinge, den Menschen, und das, was den Menschen ausmacht, und all die verborgenen und die nicht verborgenen Zusammenhänge, welche die menschliche Kultur in ihren Höhen, Tiefen und Abgründen prägen. Die hier ausgewählten Texte beziehen sich, wie im Untertitel festgehalten, auf „Ikonographie und Kunst“ und wecken selbstverständlich das Interesse für mehr. Das Buch gehört zu denen, die man in die Hand nimmt und nicht mehr aus der Hand legt, bis sie von vorn bis hinten ausgelesen sind, um dann immer wieder und wieder darauf zurückzugreifen. Das hat seinen Grund auch im überzeugenden Aufbau und der Zusammenstellung der Texte, die mit einer knappen, einführenden Lebensbeschreibung Vater Pawel Florenskijs durch den Übersetzer und Herausgeber, Erzpriester André Sikojev, im Nachwort (S. 207-224) in ihren biographischen, geistesgeschichtlichen und theologischen Zusammenhang gestellt werden, gefolgt von einer halben Seite Abkürzungsverzeichnis (S. 225) und einem mit der Überschrift, Anmerkungen“ versehenen Glossar (S. 225-230).
Der erste der abgedruckten Texte hat dem Band den Titel geliehen und entfaltet in zwei analytisch tiefenscharfen, punktiert und zugleich umfassend argumentierenden Teilen (Historische Betrachtungen, S. 9-66, Theoretische Voraussetzungen, S. 67-102) die grundlegenden Beobachtungen und Überlegungen zur „umgekehrten Perspektive“, welche Vater Pawel Florenskij der sog. Zentral- oder Parallelperspektive gegenüberstellt. Dabei fließen Erkenntnisse ein, die der Autor schon in seinem grundlegenden Werk „Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1914) vorgetragen hat, welches der Herausgeber unseres Bandes als „die erste und noch immer bedeutendste theologische Arbeit auf dem durch Whitehead-Russels Principia Mathematica gekennzeichneten wissenschaftlichen Niveau unseres Jahrhunderts“ genannt hat (S. 214). In der Tat sind die von Bertrand Russel und Alfred North Whitehead dargelegten Überlegungen zur Axiomatik der Mengenlehre für die theologischen sowie kunst- und kulturtheoretischen Ausführungen Florenskijs sehr aufschlussreich. Dabei wird der Leser von Florenskij nicht mit unzugänglich-abstrakten Gedankengängen konfrontiert, sondern auf bestimmte, augenfällige und nachvollziehbare Sachverhalte bei russischen Ikonen des 14. bis 16. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, die mit einem weitgehenden Fehlen der Zentral- bzw. Parallelperspektive auf diesen Ikonen zusammengefasst werden können. Der Autor stellt diese Beobachtungen in den Zusammenhang der weit ausgreifenden Kunstgeschichte und verweist darauf, dass in der Antike die Zentralperspektive „zuerst nicht in der reinen Kunst erschien..., sondern in der angewandten Kunst, als ein Moment des Dekorativen, welches sich nicht die Wahrheit der Wirklichkeit, sondern die Glaubwürdigkeit des Anscheins zur Aufgabe macht“. Ihr Sitz im Leben war also - nicht zufällig von Anaxagoras und Demokrit wissenschaftlich beschrieben - die Dekorationsmalerei und die Theatertechnik. Während „die reine Kunst die Wahrheit des Lebens darstellen wird (oder zumindest will) ...“ „ist die Dekoration ihrem Wesen nach - Täuschung, wenn auch eine schöne“. Es geht hier um „das für die naheliegenden Lebensfragen pragmatisch Nützliche und nicht die schöpferischen Grundlagen des Lebens selbst“. „Ihnen ging es um die Imitation der Oberfläche“, ein wichtiges Thema ist Kopieren und Verdoppeln der Wirklichkeit, die Erzeugung von Illusion, nicht der Austausch, nicht die schöpferische Synthese von Urbild und Abbild.[1]
Sehr genau beschreibt Vater Pawel Florenskij das Eindringen der Zentral- bzw. Parallelperspektive im Kontext kultureller Umbrüche in die Kunst und Malerei, wie sie sich in der westlichen bzw. nicht von Byzanz geprägten Kunst und Kultur seit dem Aufkommen der Renaissance vollzogen haben. Das zeigt sich nicht zuletzt im Verlust der organischen Einheit von Subjekt und Objekt bzw. in der für den Westen charakteristischen Subjekt-Objektspaltung, die sich auch in sozialen Sachverhalten wie der Individualisierung und Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens ausdrückt. Geistes- und sozialgeschichtlich ist das ein Vorgang, der auch in der Ausbreitung von Bewegungen wie New Age,Postmodernismus oder Poststrukturalismus heute immer noch sehr spürbar ist. Es ist kein Zweifel, dass sich die Analyse Florenskijs hier mit hervorragenden Autoren wie Gilbert Keith Chesterton und C.S. Lewis in überzeugender Weise deckt.[2] Das Besondere an der Arbeit Vater Pawel Florenskijs ist es, dass er hier als Professor für „Raumanalyse von Kunstwerken“ spricht, der er tatsächlich von 1921 bis 1924 an den sog. „Moskauer Höheren künstlerisch-technischen Werkstätten“ gewesen ist (vgl. S. 219).
Der zweite Beitrag Florenskijs (S. 103-113) enthält unter der Überschrift „Auf dem Makovez“ einen Brief an Wassili Wassiljewitsch Rosanow, der das bisher Gesagte in sehr dichter, poetischer Weise in Bezug auf die Symbolik und Bedeutung der Zeit, Aufgang und Untergang der Sonne, Abend und Morgen, Licht und Finsternis, Geburt, Sterben, Ewigkeit, Tod und ewiges Leben weiterfuhrt und vertieft.
Der dritte Beitrag Florenskijs über „Das Dreiheitskloster und Russland“ (S. 115- 144) ist nicht nur zeitgeschichtlich ein beeindruckendes Zeugnis für den Einsatz seines Autors für den Erhalt dieses Kulturdenkmals unter den absurden Bedingungen des „aus der Hochzeit des europäischen Weltkrieges von 1914-1918 und der liberalen Revolution von 1917 geborenen bolschewistischen und totalitären Atheismus“ (Nachwort von Vater André Sikojev, S. 215) und der darin sich ausprägenden brutalen oder sublimen Christen- und Kirchenverfolgung. Es ist beeindruckend, wie Vater Pawel Florenskij hier über den hl. Sergij von Radonesch und sein Kloster, die sich an diesem Ort ausprägende und ausgeprägte russische Kultur, ihre historischen Wurzeln in Byzanz und Hellas spricht. Dabei geht es zugleich um „tiefgehende Analysen der Existenzgrundlagen von Kultur an sich“ sowie den Platz und die Stellung von Christentum und Kirche in diesem Zusammenhang, die ihren Anker letztendlich im „Problem der Trinität und dem der Menschwerdung Gottes“ haben. Florenskij spricht hier von der „Verteidigung der Göttlichen Absolutheit auf der einen Seite“ und der „Verteidigung des geistigen Wertes der Welt auf der anderen Seite“. (S. 122f.) Er untersucht daher die „zwei grundlegenden Ideen des russischen Geistes“ in ihrem kulturell-geschichtlichen Zusammenhang (Trinität und Sophia, die göttliche Weisheit). Sie sind Urbilder, in der Terminologie Goethes ,Urphänomen4 oder ,Ersterscheinung4 (vgl. S. 118f., aber auch S. 157), freilich nicht „gedruckt in theologischen Lehrbüchern“ (S. 119). Es ist kein Zufall, dass Florenskij in diesem Zusammenhang - gemäß der heimatlichen Terminologie - auf das Stichwort Antlitz4 bzw. Antlitz des Antlitzes4 zu sprechen kommt, das im Leben der Kirche seinen Platz und Ausdruck findet. Und ebenso wenig ist es Zufall, dass Vater Pawel Florenskij hier auch den „Prometheus“ seines Freundes, des Symbolisten, Dichters und Autors Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow (1866-1949) zitiert (S. 123, Anm. 50).
Der vierte Beitrag Florenskijs in unserm Band: „Die Kirchliche Liturgie als Synthese der Künste44 gehört ebenfalls zu den Zeugnissen seines mutigen Einsatzes für die Erhaltung der Kunstdenkmäler und Altertümer des Sergij-Dreifaltigkeitsklosters, aber damit auch für die Orthodoxie überhaupt, wenn der Autor etwa schreibt: „Im Namen der Interessen der Kultur muss man gegen alle Versuche protestieren, einige Strahlen von der Sonne des Schöpfertums herauszulösen, ihnen ein Etikett aufzukleben und eine Glasglocke darüberzustülpen.“ (S. 148)
Man spürt buchstäblich, wie im orthodoxen Gottesdienst und im kirchlichen Leben alles mit allem verknüpft ist und bis ins kleinste Detail und im Verhältnis zum Ganzen organisch miteinander zusammenhängt, obwohl sich Florenskij hier der Aufgabe entsprechend eigentlich auf die künstlerisch-synthetischen Aspekte beschränken muss (vgl. S. 159). Was sich hier ausspricht, ist das echte Leben, oder eben: echte Kunst in ihrem Verhältnis zum echten Leben, echtes Leben im Verhältnis zu echter Kunst: „Man muss die Museen dezentralisieren, das Museum ins Leben hinaustragen und das Leben ins Museum hineinbringen, Museum als Leben für das Volk, welches tagtäglich die an ihm vorüberströmenden Massen erzieht; nicht Ansammlung von Raritäten einzig für ein paar Gourmets der Kunst, das Kunstschaffen der Menschheit muss allseitig und lebendig sich angeeignet werden und darüber hinaus vom ganzen Volk, nicht aber nur von einer abgeschlossenen Gruppe von Spezialisten, zumal Spezialisten im Hinblick auf das Ganze der Kunst am wenigsten verstehen... .“ (S. 152) Es ist völlig klar, dass diese Anmerkungen Vater Pawel Florenskijs natürlich auch allen ins Stammbuch geschrieben sind, die heute ein „Kulturerbe bewahren“ wollen und von „Umnutzung“ oder „Tourismus“ sprechen. Tatsächlich sind wir da wieder bei Goethe und der von ihm gestellten Aufgabe angekommen: „Was Du von Deinen Vätern ererbt hast: Erwirb es, um es zu besitzen!“ Tatsächlich geht diese Aufgabe sehr tief und vielleicht ist gerade jetzt noch der letzte Moment, sie anzupacken (vgl. die Arbeiter der elften Stunde, Mt 20).
Gerade deshalb ist es hilfreich, noch einmal auf das hier rezensierte Buch zurückzugreifen und den fünften und abschließenden Beitrag Vater Pawel Florenskijs über „Die Gebetsikonen des heiligen Sergij“ auf sich wirken zu lassen, weil auch da nichts dem Zufall überlassen und wirklich jedes Detail überaus wichtig ist. Florenskij schreibt: „Im gegebenen Fall ist die Rede durchaus nicht von irgendeiner subjektiven Erinnerungskraft der Kunst, sondern von jener platonischen „Erinnerung“, avdpvr|oi<; (anämnisis), als der Erscheinung einer Idee innerhalb des Sinnlichen. Die Kunst führt aus der subjektiven Abgeschlossenheit hinaus, reißt die Grenzen der konditioneilen Welt nieder und führt, bei den Bildern beginnend und über die Vermittlung durch dieselben hin zu den Urbildern.“ (S. I65f.)
Vor etwa 20 Jahren hat Prinz Asfa-Wossen Asserate aus der Äthiopischen Orthodoxen Kirche im Kontext seines Eintauchens in die deutsche Kultur mit seinem Bestseller „Manieren“ auf den grundlegenden Zusammenhang von Gottesdienst, Liturgie und Kultur hingewiesen.[3] Diesen Zusammenhang hat Vater Pawel Florenskij schon sehr früh gesehen, wenn er in seiner Deutung des symbolistischen Dichters Alexander Blök schreibt: „Die genetische Abhängigkeit der Kultur vom Kult zwingt dazu, die Quellen der Themen der Kultur in der Thematik des Kultes zu suchen, d.h. in der kirchlichen Liturgie. In ihr ist aller Anfang und alles Ende, die Gesamtheit der allgemein-menschlichen Themen in ihrer Reinheit und Klarheit erschöpft. Die von der kirchlichen Liturgie losgerissene Kultur aber ist dazu verurteilt, sie zu variieren, zu verdrehen. Das Schaffen der Kultur, die sich von der Liturgie losgerissen hat, ist wesenhaft - Parodie. Die Parodie setzt die Veränderung des Vorzeichens bei identischen Themen voraus.“[4]
Es ist an der Zeit, zum Original zurückzukehren. Die Bücher und Texte von Vater Pawel Florenskij helfen uns dabei. Er hat uns allerdings schon längst ins Stammbuch geschrieben: „Um aber orthodox zu werden, muss man in das Element der Orthodoxie selbst untertauchen, anfangen orthodox zu leben - einen anderen Weg gibt es nicht.“[5]
In diesem Sinne wünsche ich der hier besprochenen „Umgekehrten Perspektive“ eine weite Verbreitung und eine aufmerksame Leserschaft.
Abschließend möchte ich für eine überaus wünschenswerte nächste Auflage des Buches als vorteilhaft anmerken, wenn hier zum einen auch die auf S. 184 erwähnten Begriffe „Dwischki“, „Probelki“, „Oschiwki“ und „Nakladki“ im Glossar erläutert und wenn zum andern die Fußnoten des Nachworts aufgrund der dort zahlreich vorhandenen Druckfehler noch einmal überarbeitet würden. Ebenso wären ein übersichtliches Literaturverzeichnis und ein noch zu erstellendes Register kein Fehler.
Ich möchte aber noch einmal unterstreichen, dass das Erscheinen des hier besprochenen Bandes sehr willkommen ist, weil eine breitere Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Werk und Schaffen von Vater Pavel Florenskij im Kontext der kulturgeschichtlichen Umbrüche unserer Zeit ohne Zweifel äußerst dringlich und sinnvoll sind.
Dr. Dr. Wolfgang G. Wünsch, Erfurt
Die Rezension erschien in: AUFTRAG UND WAHRHEIT
Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und TheologieSchriftleitung
Pfarrer Prof. h. c. Dr. Jürgen Henkel, Hauptstr. 37, D-95100
Zum Buch: https://www.edition-hagia-sophia.de/p/pawel-florenski-die-umgekehrte-perspektive-ikonographie-und-kunst
[1] Vgl. S. 22ff.
[2] Vgl. etwa Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen, 3. Auflage, Fe-Medienverlag, Kißleg, 2020; C.S. Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 9. Auflage, Johannes Verlag, Einsiedeln, 2020.
[3] Vgl. Asfa Wossen-Asserate, Manieren, Frankfurt/Main 2003/München 42009.
[4] Zitiert bei Vater André Sikojev, Nachwort, S. 222.
[5] Pawel Florenskij, Der Pfeiler und die Feste der Wahrheit. Vorwort, in: Nicolai von Bubnoff und Hans Ehrenberg (Hg.), Östliches Christentum. Dokumente, Bd. II: Philosophie, München 1925, S.31.