Sonntag, 4. April 2010

Konstantin Leontjew Osterfest auf dem Athos

Die Beschreibung der Auferstehungsfeier des Herrn auf dem heiligen Berg Athos, aus der Feder des großen russischen Philosophen und Schriftstellers Konstantin Nikolajewitsch Leontjew (rus. Константин Николаевич Леонтьев) (1831-1891), ist sicherlich die schönste Beschreibung des „Festes der Feste“, welche je verfasst wurde. 
Nachdem Leontjew die Osterfeier auf Athos miterlebt hatte, schrieb er seinen tiefen Eindruck nieder. Die Sätze Leontjews beschreiben in wunderbarer Form, das alles durchströmende Lebensprinzip, den Inbegriff des Glaubens und Hoffens, die ganze Sehnsucht des orthodoxen Christenmenschen. Für Leontjew war Ostern auch das Sinnbild seiner eigenen Auferstehung zum neuen Leben in Christo.
[…] „Die strengen, für einen gläubigen Laien unbegreiflichen asketischen Übungen der meisten Klöster auf dem Athos erreichen während des Osterfastens einen solchen Grad, daß es einem zuweilen bange wird, daran zu denken. Die gewöhnlichen Gottesdienste, die sonst schon lang und häufig sind, füllen während des Fastens den ganzen Tag und die ganze Nacht. Die Einschränkung in der Nahrung wird bis zum Äußersten getrieben. An einigen Tagen der ersten Fastenwoche wie auch in der Karwoche bekommen nur die Chorsänger ein oder zweimal am Tage ein Stück Brot, damit sie singen können. In dieser Zeit müssen alle auf dem Athos, ob sie wollen oder nicht, mit ihrem Geist und Körper ringen. Wenn die Griechen sich am Anfang des Fastens begrüßen, sagen sie: ,Ich wünsche dir, daß du den See der Quadragesima durchschwimmen kannst!‘ Fürwahr, das große Meer! Das Meer des Hungers und der Traurigkeit, das Meer der Müdigkeit und des gewaltsamen Gebetes, von dem sich loszusagen weder das eigene Gewissen noch die Vorschrift erlaubt, außer in Fällen größter Erschöpfung. Dann kommt noch die ,große Woche‘, die Karwoche: Die Anstrengungen der Menschen zur Verherrlichung Christi und zum Ruhme Gottes werden noch grausamer, die Gottesdienste noch länger und ununterbrochener, die Nahrung noch karger, die Zeit des Schlafens und Ausruhens noch kürzer, die moralischen Forderungen des asketisch gestimmten Gewissens noch unerbittlicher. Der letzte Abend bricht an. Alles ist in Schweigen versunken, die Zellen der Mönche sind geschlossen. Die langen Flure sind still. Die Kirchen leer. Der Wald, der Berg, die See, alles ist menschenleer. Und da, genau um Mitternacht, ertönt ein starker Hammerschlag auf ein Brett. Ihm folgen andere, immer häufiger und häufiger. Dann fangen plötzlich die Glocken an, mächtig und feierlich zu läuten. Alles wird auf einmal lebendig. Türen schlagen, man hört Stimmen, Lichter flimmern überall. Von Hunderten von Kerzen beleuchtet, strahlen uns die offenen Kirchen entgegen. Alles erwacht freudig und heiter. Selbst wer am meisten erschöpft war, fühl. jetzt eine unbegreifliche Kraft der Erregung. Beendet ist das Schwimmen über das ,Große Meer‘ der körperlichen Foltern und des zuweilen unerträglichen seelischen Kampfes.

Wir sind am Ufer, und zwar an einem heiteren, blühenden Ufer angekommen. ,Christus ist auferstanden von den Toten; er hat den Tod durch den Tod überwunden.‘
Die Ostermette auf dem Athos dauert von Mitternacht bis zum Morgenrot. Dann begeben sich alle auf kurze Zeit in ihre Zellen und kehren wieder in die Kirche zur frühen Messe zurück. Ich erinnere mich, daß ich genau so froh während der Messe wie während der Mette war, als ich zuerst den österlichen Gesang vernahm und nicht genug die unvergleichlichen Worte hören konnte, wie oft sie auch wiederholt wurden: ,Christus ist auferstanden von den Toten; er hat den Tod durch den Tod überwunden!‘ Die größte Freude aber sollten wir erst noch erleben.
Es war die Sonntagsvesper, die im Morgenlande als ,Zweite Auferstehung‘, griechisch ,Deutéra anástasis‘, bezeichnet wird. Während dieses nicht zu langen Gottesdienstes wird das Evangelium in verschiedenen Sprachen vorgelesen. Es ist bekannt, daß in dieser Vesper jene Stelle des Johannes-Evangeliums vorgelesen wird, in der von der zweiten Erscheinung des auferstandenen Heilandes vor all seinen Jüngern außer dem Apostel Thomas die Rede ist (Joh. 20, 1925). Die erste Erscheinung galt Maria Magdalena. Daher ist es im Morgenlande üblich geworden, diesen Gottesdienst ,Zweite Auferstehung‘, daß heißt die zweite Erscheinung, zu nennen. In welchen Sprachen das Evangelium vorgelesen werden soll, ist nicht vorgeschrieben. Lesen darf man es in allen Sprachen, in denen es den Anwesenden bekannt oder auch unbekannt ist. Beides macht einen sehr großen Eindruck. In der Sprache, die man versteht, ist es angenehm, jenem Gedanken, der bereits in der Muttersprache bekannt ist, zu folgen, während uns unbekannte Laute auf andere Weise, als etwas Geheimnisvolles und Seltsames, ergreifen. Man liest in den Sprachen, in denen es in der betreffenden Gegend möglich ist: zuerst selbstverständlich griechisch, dann slawisch, türkisch, armenisch, albanisch, zuweilen arabisch oder lateinisch.
Die Vesper zelebrierte man mit den Griechen zusammen in der Hauptkirche des russischen Panteleimonklosters, die wie alle Hauptkirchen des Athos in die Mitte eines mit großen Steinen gepflasterten Hofes gebaut ist. Der Stil dieser Kirche ähnelt dem Stil der alten Kathedralen in Moskau. Sie ist hoch, majestätisch, prunkvoll, streng, dunkel und doch blendend von Gold. Die Ikonostasis ist unendlich hoch. Die runde Kuppel über der Mitte der Kirche ruht auf einem runden Turm. Sie ist ganz von strahlendem Licht erfüllt. Außer einem massiven, wertvollen Kronleuchter befindet sich dort, näher den Wänden, ein silberner, riesiger, geschmückter Ring, ,Chorus‘ genannt, mit einer Reihe von Lichtern, die um die pyramidenartigen Flammen des Kronleuchters noch einen Lichterkranz ziehen. Zwischen den Flammen des Kronleuchters und des Ringes hängt eine Menge einzelner Öllämpchen und Lichter und Straußeneier an silbernen Ketten. Der ,Chorus‘ ist auch nach unten mit einer Reihe dieser großen, weißen Eier geschmückt. An den hohen Feiertagen wird der Kronleuchter wie auch der ,Chorus‘ und alles, was da noch über den Menschenköpfen hängt, im Kreise bewegt. Alle diese Flammen der Lichter und Lämpchen, dieses Silber und Gold, diese großen, steinharten Eier das blendet, leuchtet, funkelt, dreht sich da oben, als ob es mit den Menschen zusammen sich im stillen freue, in einem ununterbrochenen feierlichen Tanz. Da ertönt der Ausruf des Diakons: ,Daß wir würdig seien, das heilige Evangelium anzuhören bitten wir den Herrn‘, und weiter: ,Lesung aus dem heiligen Evangelium nach Johannes. Laßt uns aufmerksam sein! ‘ Es ist das erste Evangelium in der griechischen Sprache. Kaum ist die Lesung beendet, so ertönt plötzlich ein betäubend lautes Glockenläuten, und im gleichen Augenblick fängt im Hofe ein lustiges Flintenschießen an. Dort schießen zur Ehre Gottes die Klosterwächter. Dann wird eine Minute alles still. Kein Läuten und kein Schießen, kein Ruf und kein Gesang, alles schweigt. Und in dieses plötzliche Stillschweigen hinein ertönt in der Kirche selbst, irgendwo in ihrer Tiefe, ein eigenartiges, sehr angenehmes, wellenartiges Läuten, als ob sehr große Tropfen mit musikalischem Ton auf Metall fielen. Das sind die Griechen, die mit kleinen Kugeln auf langen Stäbchen rhythmisch gegen Metalldisken schlagen. Und wieder eine Stille und ein Warten. Dann hört man einen Ausruf auf slawisch: ,Daß wir würdig seien, das heilige Evangelium anzuhören, bitten wir den Herrn‘, und weiter: ,Lesung aus dem heiligen Evangelium nach Johannes. Laßt uns aufmerksam sein!‘ Der Priester liest slawisch. Und wieder das feierliche Läuten und das Schießen, dann wieder die Stille auf einen Augenblick, und wieder ertönt der zarte Glockenschlag der Metalldisken. Was wird jetzt kommen? ,Laßt uns aufmerksam sein!‘ Was für Töne sind es? Es ist das türkische Evangelium. Nach neuem Läuten, neuem Schießen, nach neuen Schlägen auf die Metalldisken und neuen Ausrufen vernehmen wir von der anderen Seite der Kirche bekannte Laute. Es spricht Rom! ,In illo tempore cum sero esset die illo una sabbatorum, et fores essent clausae, ubi erant discipuli […]
Dann höre ich eine Sprache, die ich nicht verstehe. Welche ist es? Es ist die Sprache eines Volkes, das keine Literatur, keine Grammatik hat, die Sprache des Volkes, das nur in den Bergen entstandene epische Lieder besitzt. Es ist die albanische Sprache, die Sprache der berühmten Arnauten, die Byron so geliebt hat, die auch ich ich muß es gestehen sehr liebe. Sprache der analphabetischen Helden, grausamen Räuber und treuen, sich selbst aufopfernden Diener […] Die Vesper ist zu Ende. Man hört kein Läuten und kein Schießen mehr. Auf dem gepflasterten Hofe und in den langen Gängen zwischen den Zellen herrscht wieder das tiefe Still­schweigen der Ruhe. Ich sitze lange am offenen Fenster und sehe vor mir rosige, goldige, gelbe, bräunliche und weiße Sträucher an dem gewöhnlich so finsteren und kargen Berge, der jetzt gleichsam unsere Freude miterlebt. Ich höre das leise Schellen der Glöckchen der weidenden Maultiere, aber andere Bilder und Töne bemächtigen sich meiner Seele an diesem Abend, das Rufen und Läuten, die Lesung des Gotteswortes, die verschiedenartigen Laute: ,Friede mit Euch! Irini imin! Pax vobis! Seläm ssise!‘ […]
Die finstere Kirche, die strengen Gesichter der Ikonen, das Leuchten des Silbers und Goldes überall, das Schießen, die Stille, das Läuten, wieder die Stille, wieder ein Gebetsruf, wieder das Schießen und das Läuten und der Gesang und die Stille und das wunderschöne Lesen inmitten einer allgemeinen ehrfurchtsvollen Aufmerksamkeit, die dann und wann nur durch ein Lächeln der Mitfreude oder eines leichten Er­staunens gestört wird.
Und über allem der stille, fröhliche, unaufhörliche Tanz von unzähligen Lichtern in der dunklen Höhe […]. Nein, es ist wahrhaftig das Fest der Feste und die Feierlichkeit der Feierlichkeiten!“

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