Samstag, 10. August 2024

Vom Herzensfeuer des Ostens

Eine Rezension von Christian Rummel zu dem Werk "An den Mauern der Kirche", von Sergej Fudel

Eine Entdeckung! Erstmals erschien im Jahr 2023 in deutscher Sprache ein Buch von Sergej Fudel (1900–1977), dem Sohn eines Moskauer Gefängnispriesters, der ein Leben voller Entbehrungen und Einsamkeit, aber auch Begegnungen mit vielen Christussuchern zu meistern hatte. Nach nur einem Jahr Studium wurde er verhaftet; bis in die Mitte des Jahrhunderts war er dreimal während insgesamt 12 Jahren in sowjetischen Straflagern und zwischendurch als Soldat im Weltkrieg. Nach seiner Lager-Entlassung blieb sein Bewegungsradius behördlich eingeschränkt – seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Kantor in Pokrow, 100 km östlich von Moskau, an demselben Ort, wo von 2021–22 Alexej Nawalny inhaftiert war.

Seit den 1950er Jahren schrieb er über zwanzig Bücher, „… über die lichttragende Kirche und ihren »dunklen Doppelgängen, über ihr Volk, ihre Heiligkeit … Diese Bücher sind voller Licht, Liebe, Hoffnung, aber oft auch voller Schmerz“, so N. Balaschow im Vorwort. Fast alle – u.a. eine Monographie über Dostojewskij – konnten nur heimlich, im Selbstverlag verlegt werden. Nur jenes über Pavel Florenskij – er hatte ihn in seiner Jugend kennengelernt – konnte unter dem Pseudonym F. I. Udelov 1972 in Paris erscheinen. 14 Jahre nach seinem Tod begann dann die offizielle Herausgabe seiner Werke in Russland – und sie gewannen viele Leser.

In „An den Mauern der Kirche“ versammelt Fudel kurz vor seinem Lebensende seine Erinnerungen und Meditationen über das Leben der Christen unter der Verfolgung im atheistischen Staat. Es kommen darin viele „einfache Leute“ zu Wort, von denen einige zu Neumärtyrern der orthodoxen Kirche wurden, auch manche bekannte Persönlichkeiten. Was man nicht findet: eine Klage über die Unmenschlichkeit des politischen Systems; die Aufmerksamkeit des Autors gilt ganz der Kraft der Einzelnen, ihre Menschen- und Gottesbeziehung in Hingabe und Demut zu pflegen – und dem Sein der Kirche, der Menschengemeinschaft Christi.

Von der Ohnmacht der Kirche im Kommunismus, der Zerstörung ihrer Gotteshäuser, der Verbannung und Ermordung ihrer Priester und priesterlichen Gläubigen lässt sich Fudel nicht beherrschen. Er blickt auf das Wesentliche, welches nicht mehr in äußerem Glanz gefunden werden kann. Das Leben der Kirche ist „… einfach nur Leben aus der Verkündigung des Herzens … und im Übrigen ist es auch weder philosophische Ansicht noch ritueller Reflex … Leben in der Kirche – das sind zuallererst Tränen, denn ohne Tränen kann man nicht am Kreuz stehen.“

Fudel, so Balaschow, war davon überzeugt, „… dass man Menschen nicht belehren darf, sondern sie ernähren muss, ob körperlich oder seelisch …“, nährte „… die Herzen in einer

Zeit geistlicher Hungersnot in Russland mit dem Brot des Lebens«. Balaschow fügt hinzu: „Was ihm auf seinem leidvollen Weg widerfuhr, war genug, um selbst einen starken Mann zu brechen. Sergej Fudel aber lebte sein Leben und begegnete dem Tod mit einem dankbaren Lobpreis Gottes in der Seele, in Worten, die von selbst über seine Lippen zu drängen schienen …“

Sein Buch ist wie das Gespräch des Autors mit den Menschen, denen er persönlich oder in ihren schriftlichen Werken begegnet ist – und als Leser fühle ich mich hineingenommen in dieses Gespräch – mit vielen, die Christus in sich belebend mir vorangingen. Keine Buchseite, ohne dass ich im Herzen berührt werde, mir eine unerwartete Sichtweise entgegenkommt.

„Leben wir außerhalb der Reue, so leben wir außerhalb der Kirche.“ Besonders bei Priestern vermisst Fudel das Bewusstsein für diese Wahrheit. „Folglich positionieren sich gerade diejenigen Menschen, die Reinigung und Heiligkeit am nötigsten haben, abseits des Weges …“, der zum Wesenskern, zum Sein der Kirche führe.

„Gnade wirkt in der Freiheit des Menschen und die Freiheit in der Gnade; sie sind, wie Bischof Theophan der Klausner es ausdrückt, einhergehend miteinander. Daher vollzieht sich der gesamte Heilsprozess eines jeden Menschen durch das untrennbare Wirken beider Kräfte.“

Wie viele russische Menschen hatte Fudel es schwer mit dem westlichen Rationalismus. Den Aquinaten empfand er geradezu als Angriff auf seinen Glauben: „Nachdem ich 500 Seiten Thomas von Aquin gelesen hatte, stieß ich in dieser großen Ödnis plötzlich auf die lebendigen Worte: Wem der Glaube innewohnt, dem wird er durch einen inneren Akt des Herzens bewusst.“

Zum Schluss: „Ein ganz besonderes Empfinden für das unvergängliche Leben ergreift einen Menschen in Augenblicken, in denen ihm seine Nähe zur wahren Heiligkeit der Kirche ins Bewusstsein tritt. Solche Momente währen nicht lange, und der Mensch weiß in diesen Minuten noch nicht mit Gewissheit, ob er Teil dieser Heiligkeit ist, d. h. ob er in der Heiligen Kirche ist – für einen glückseligen Augenblick wird er gewahr, dass er an ihren unbefleckten Mauern steht. Denn unser Sein in der Kirche ist nicht unser Recht, sondern stets ein Wunder, eine unverhoffte Freude.“

 

Sergej Fudel: „An den Mauern der Kirche“, Edition Hagia Sophia, Wachtendonk 2023, 194 Seiten, 20 Euro

 

Vom Herzensfeuer des Ostens

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