Mittwoch, 24. März 2010

Sergej Horujiy: Die Dialektik der Überwindung des Todes in der hesychastischen Tradition

Die orthodoxe monastisch-asketische Tradition, die seit alters her die Bezeichnung „Hesychasmus“ oder „heiliges Schweigen“ trägt, erfreut sich eines besonderen Status in der Orthodoxie. „Die Erfahrung des Mönchtums blieb immer der eigentliche Kern der Orthodoxie“ (Erzpriester Ioann Meyendorf, Kirche, Gesellschaft, Kultur in der orthodoxen kirchlichen Tradition: Die Orthodoxie in der heutigen Welt. New York 1981, S. 226), schreibt der große zeitgenössische Erforscher dieser Tradition Vater Ioann Meyendorf. Die im Hesychasmus geschaffenen und bewahrten Richtlinien, die Prinzipien der Beziehung des Menschen zum Sein, zum eigenen Leben und zur eigenen Person sind seit langem im allgemeinorthodoxen Bewusstsein als Orientierung und Muster für jeden Christen anerkannt worden, als ein solches Muster, das nur einigen gegeben ist zu verwirklichen, dem aber jeder entsprechend seinen Kräften folgen soll. In den Schlüsselproblemen der religiösen Weltanschauung stellen die Positionen des Hesychasmus in der Regel die Quintessenz, den Kern der gemeinsamen Positionen der orthodoxen Glaubenslehre dar, wenn man laterale Momente ausschließt und nur Hauptsächliches und Tiefes beibehält, es jedoch mit besonderem Nachdruck beibehält. Daher ist es natürlich zu erwarten, dass im Problem des Todes, das zweifellos zu diesen Schlüsselproblemen gehört, die hesychastische Askese ebenso ihre leitende Rolle bewahrt und eine echt orthodoxe Haltung sowohl zum Phänomen des Todes, als auch zum Ereignis des jedem lebenden Menschen bevorstehenden persönlichen Todes zum Ausdruck bringt.
Wie wir uns in diesem Vortrag bemühen werden aufzuweisen, sind diese Erwartungen selbstverständlich gerechtfertigt. Sich davon zu überzeugen, erweist sich jedoch als nicht so einfach. Wenn wir die Zeugnisse der asketischen Texte durchsehen, entdecken wir in der Ökonomie der Haltung eines orthodoxen Asketen zum Tod eine Reihe bemerkenswerter Momente und Motive, die auf den ersten Blick ganz und gar nicht zu den gemeinsamen Charakteristika der christlichen Weltanschauung gehören, sondern eher irgendwelche spezifischen und sogar sonderbaren Eigenschaften und Tendenzen des hesychastischen Bewusstseins darstellen. Wir bemerken, dass an Stelle des im Christentum üblichen und organischen Leitmotivs einer Feindseligkeit gegenüber dem Tod, eines Kampfes mit ihm und eines Sieges über ihn in den Aussprüchen der Asketen sehr häufig eine gewisse Liebe zum Tod durchklingt, ein Hingezogensein zu ihm, was in der heutigen Geisteswelt sofort mit dem Todestrieb assoziiert wird, den die Psychoanalyse im Menschen konstatiert. In den Phänomenen des geistlichen Lebens treten die eigentlichen Triebkräfte und Zusammenhänge nur selten auf den ersten Blick zu Tage. Wenn wir tiefer in die praktische Thanatologie des Hesychasmus eindringen, kommen wir zum Schluss, dass die Annahme des Todes, die eines seiner Charakteristika ist, mit einem psychoanalytischen Impuls nichts gemeinsam hat. Diese Annahme des Todes – sie ist ursprünglich und zutiefst in ihrer Natur christologisch – tritt als spezifischer Grenzbereich in der Haltung des Christen zu seinem Tod zu Tage, als ein solcher Grenzbereich, der nur auf den höchsten Stufen der hesychastischen Stufenleiter des Aufstieges zur gnadenhaften Vergöttlichung erreicht wird.
Die Überwindung des Todes. Das Evangelium Christi ist die Frohbotschaft des Sieges über den Tod. Das ist der Eckstein des christlichen Glaubens, und seine Ecksteinfunktion ist in allen Bereichen der christlichen Lehre unzerstörbar verankert – in der Exegese, Gotteslehre, Liturgik usw. Der Tod ist der schlimmste Feind, der den Menschen für das ganze Leben zu versklaven vermochte (Hebr 2,15), und das Heilswirken Christi besteht gerade darin, dass Er den Tod bezwang (2 Tim 1,10), „um durch Seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel“ (Hebr 2,14). Christus ist die Erfüllung der Prophezeiung des Jesaja: „Er beseitigt den Tod für immer“ (Jes 25,8; 1 Kor 15,54), und gemäß der Frohbotschaft Christi muss der Feind, der für uns der Tod ist, vernichtet werden (1 Kor 15,26). Diese Grundfesten der Thanatologie der Evangelien und der Kirche überhaupt bleiben auch die unbedingte Norm für die asketische Einstellung zum Tod, und sie werden immer von neuem mit herrlichen Worten von den Lehrern der orthodoxen Askese bestätigt. „Tod und Verwesung sind Früchte der Sünde... eine Strafe für die erste Übertretung Adams“, schreibt der hl. Simeon der Neue Theologe und darauf fährt er fort: „Gott ist gekommen, das Todesurteil zu vernichten. Der Tod, der jetzt zertreten und durch die Auferstehung Christi zu Schanden gekommen ist, wird nach der allgemeinen Auferstehung völlig aufgehoben sein“ (Ehrwürdiger Simeon der Neue Theologe. Aussprüche. Übersetzung des Bischofs Feofan. Bd. 1. Moskau 1992, S. 44, 56). Der russische Hesychasmus übernimmt das Zeugnis des byzantinischen Hesychasmus: „Wir befinden uns auf Erden, um durch Glauben, Buße und Kreuz den Tod zu töten, der uns getötet hat“ (Bischof Ignatij Brjančaninov. Werke. 3. Aufl., Bd. 3. St. Petersburg 1905, S. 183), sagt der hl. Ignatij (Brjančaninov) in seinem „Wort über den Tod“. Das erste der angeführten Zeugnisse wurde an der Schwelle der hesychastischen Renaissance in Byzanz formuliert, das zweite in der Morgenröte der russischen hesychastischen Renaissance.; und so bestätigen diese beiden sehr wichtigen Perioden im Leben der hesychastischen Tradition übereinstimmend ihre Treue zu den Prinzipien der christlichen Unversöhnlichkeit mit dem Tod und zur geistlichen Aufgabe seiner Überwindung. In der hesychastischen Literatur sind derartige Zeugnisse zahlreich, und die angeführten Beispiele könnten ohne Mühe mit weiteren ergänzt werden.
Die Annahme des Todes. Jede Askese ist eine extreme anthropologische Praxis, in welcher der Mensch die Grenzen seiner Natur erprobt und sich mit dem Äußersten der menschlichen Existenz konfrontiert. In diesen Praktiken entstehen besonders enge und tiefe Beziehungen zum Tod als der wichtigsten aller Grenzen, der endgültigen Grenze der Existenz. Dabei entstand eine äußerst strenge Askese und das dazu gehörige Bemühen vornehmlich auf dem Weg des besonderen Umgangs des Asketen mit seinem Leib, mit Hilfe leiblicher Enthaltsamkeit in einer strengen und häufig auch extremen Form. Diese Somatik der Askese hat das asketische Bewusstsein ganz leicht auf den Standpunkt des heidnischen anthropologischen Dualismus versetzt, der eine scharfe ontologische Teilung des Menschen in ein göttliches Prinzip der Seele (des Geistes) und einen zu nichts nützlichen, völlig wertlosen Leib durchführt, welcher der Seele bloß als Bürde und Fessel dient. Zu dieser Richtung gehörten zahlreiche und einflussreiche geistige Bewegungen der Antike – gnostische, neuplatonische, orpheische und manichäische Strömungen. Und solange die christliche Askese im Stadium ihrer Ausformung war, ohne noch ihre reife Selbsterkenntnis auf Grundlage der kirchlichen Dogmatik erlangt zu haben, waren die Elemente einer dualistischen Tendenz in ihr sehr stark bemerkbar. In der Frage der Einstellung zum Tod führte der anthropologische Dualismus naturgemäß zur Apologie des Todes, zu seiner Rechtfertigung und sogar Verherrlichung: Der Tod erschien hier als Ablegen der beschwerlichen Fesseln des Fleisches, als Befreiung des im Menschen eingekerkerten geistigen Prinzips und als Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen (mit je nach Lehrmeinung unterschiedlichen Vorstellungen). Eine derartige Apologie des Todes kann man sogar bei den kappadokischen Kirchenvätern in ihren zweitrangigen Werken antreffen (ausdrucksvolle Beispiele dafür werden im grundlegenden Werk über die Asketik von S.M. Zarin angeführt; so sagt der hl. Basileios der Große: „Für den zum höheren Leben strebenden Menschen ist das Verweilen im Leib schwerer als jede andere Strafe und jedwedes Gefängnis“, wobei er hinzufügt, dass nur „die Lösung der Seele von den Banden des Leibes“ das echte Leben initiiert. – Siehe S.M. Zarin, Asketismus in der orthodox-christlichen Lehre. 2. Auflage. Moskau 1996, S. 672). Aber allmählich wurden die Elemente der heidnischen dualistischen Anthropologie überwunden und beseitigt. Sie wurden durch eine vollständige Akzeptanz der in der Bibel und in den Evangelien enthaltenen Anthropologie der Integrität abgelöst, die den Menschen als Einheit sieht, in dem nach den Worten des hl Gregorios Palamas „der Leib gemeinsam mit der Seele vergöttlicht wird“ (Siehe Gregorios Palamas. Triaden zur Verteidigung der heiligen Schweiger. Moskau 1993, S. 99). Dementsprechend finden wir im reifen Hesychasmus praktisch keine Apologie des Todes, die vom heidnischen Abscheu vor der Leiblichkeit und von der ontologischen Trennung von Seele und Leib motiviert war.
Aber bei all dem verschwindet das Thema der Annahme des Todes nicht völlig aus dem hesychastischen Diskurs. Schon außerhalb jeglichen Einflusses des heidnischen Dualismus bleibt sie eine augenscheinliche Komponente der Einstellung des Asketen zu seinem eigenen Tod. So sagt Abba Isaak der Syrer: „Wer die Liebe Gottes erreicht hat, will nicht mehr hier verweilen... Liebe ist süßer als Leben... Die Freude in Gott ist stärker als das irdische Leben“ (Abba Isaak der Syrer. Asketische Worte. Moskau 1993, 159,160). In diesen Worten des Heiligen gibt es keine Spur einer dualistischen Trennung der menschlichen Natur oder einer spiritualistischen Leibverachtung, sondern in ihnen klingt eine tiefe, freudige Annahme des Todes an. Wir lesen auch beim hl. Simeon dem Neuen Theologen: „Nach dem Kreuz und der Auferstehung Christi begehren Christen den Tod“ (Ehrw. Simeon der Neue Theologe, a.a.O., S. 48). Und im Anklang an diese Zeugnisse spricht 1000 Jahre später – schon in unserer Zeit – der hl. Siluan vom Athos einfach und ungekünstelt, aber mit großer geistlicher Eindringlichkeit über seine eigene Erfahrung von der Einstellung zum Tod: „Ich sitze und denke: Ich möchte nicht sterben; und ich sage: ‚Herr, ich möchte nicht sterben. Wenn jemand seine Eltern eine lange Zeit nicht gesehen hat, geht er mit Freude zu ihnen, und Dich, barmherziger Herr, kennt meine Seele, aber trotzdem möchte ich nicht sterben.’ Und ich bekomme eine Antwort in meinem Inneren: Das ist deshalb, weil du Mich nur wenig liebst“ (Mönchspriester Sofronij, Starez Siluan. Moskau 1991, S. 419). Dieses „Nicht-Wollen“, das in den Worten des Heiligen ausgedrückt ist, erscheint in seiner weiteren Erfahrung übrigens als völlig aufgehoben und überwunden: „Meine Seele hat sich dem Tod genähert und empfindet den starken Wunsch, den Herrn zu sehen... Mein Geist verzehrt sich, den Herrn in der Herrlichkeit zu sehen“ (A.a.O., S. 448, 447). Hier ist die spirituelle Erfahrung unseres Zeitgenossen mit der Erfahrung der alten Asketen völlig identisch, und das Motiv der hesychastischen Akzeptanz des Todes, die Todesfreude, tritt mit aller Klarheit zu Tage.
Die Lösung der Antinomie. Es stellt sich die notwendige Frage: Wie sind diese zwei Leitmotive der Thanatologie des Hesychasmus – erstens das allgemein kirchliche und zweitens das spezifisch asketische – miteinander verbunden? Ihr Widerspruch ist klar zu sehen; die Feindseligkeit dem Tod gegenüber ist bewusst nicht dasselbe wie die Todesfreude. Um ihre Beziehung zueinander zu verstehen, muss man sich noch einmal und noch aufmerksamer den Selbstzeugnissen der Tradition zuwenden. In ihnen enthüllt sich für uns deutlich die Natur dieser echten Verbindung von Gegensätzen; der Widerspruch wird von gegenseitiger Ergänzung und Harmonie abgelöst.
„Die monastische Religiosität ... ist vor allem die hesychastische Religiosität“, schrieb Vater Alexander Schmemann (Current spirituality. Orthodoxy // The Study of Spirituality. Ed. by C. Jones, G. Wainwright, E. Yarnold. Cambridge 1986, p. 522). Die hier angesprochene eschatologische Ausrichtung hat einen direkten Bezug zu unserem Problem und ist ein Schlüssel dafür. Die eschatologische Färbung des hesychastischen Bewusstseins äußert sich auch in seiner Einstellung zum persönlichen Tod: Für das Bewusstsein des Asketen ist sein Tod ein geistliches Ereignis, das untrennbar mit der eschatologischen Wirklichkeit der Auferstehung Christi und der erwarteten allgemeinen Auferstehung verbunden und verknüpft ist. Dabei ist jedoch entscheidend, dass diese eschatologische Erfülltheit des persönlichen Todes nicht von sich selbst aus automatisch gegeben ist, sondern im geistlichen Aufstieg gefunden werden muss, da sie eine der höchsten und innersten Früchte der Askese ist. So sagt der Mönchspriester Sofronij: „Bis der Mensch seine Auferstehung in Christus erlangt, solange ist in ihm alles durch die Todesangst und folglich durch die Knechtschaft der Sünde verunstaltet“ (Mönchspriester Sofronij, a.a.O., S. 98). Diese Worte des Starzen sind für uns wegweisend: Durch sie können wir zu den Wurzeln der hesychastischen Annahme des Todes gelangen.
An erster Stelle spricht der Starez hier über die „Auferstehung des Menschen in Christus“. Dieser Begriff ist aus der orthodoxen Eschatologie bekannt, er bedeutet „Pfand und Anfang“, „gleichsam ein Same“ (Ausdrücke des hl. Bischofs Feofan des Klausners) der Auferstehung des Menschen vor der allgemeinen Auferstehung, durch die geistliche Erfahrung der Teilhabe am auferstandenen Christus. Sofronij weist auf einen weiteren Aspekt dieses Begriffes hin: Die Erlangung der „Anfangsgründe der Auferstehung“ vertreibt die Angst vor dem Tod, die – was ebenfalls wichtig ist – ein verzerrtes Prinzip des gesamten menschlichen Inneren ist, was die Versklavung an die Sünde bezeugt. Ihm folgend ziehen wir den Schluss: Wenn aus Gnade die entstellende Wirkung der Todesangst überwunden ist, beginnt sich eine neue innere Struktur zu bilden, der auch eine andere Einstellung zum Tod entspricht. Der Charakter dieser neuen Einstellung erklärt sich daraus, dass ihm die Teilhabe an der Auferstehung Christi zu Grunde liegt, die Erfahrung des Mitsterbens und Mitauferstehens mit Christus: Im Lichte dieser – ganz und gar christozentrischen – Erfahrung hört der Tod eben auf, jenes geistliche Ereignis zu sein, welches die angeführten asketischen Zeugnisse beschrieben haben. Er erscheint als helles Ereignis, das den Asketen durch den Tod in das Leben Christi führt, und somit als verdienter Gegenstand der hesychastischen Annahme des Todes und der Todesfreude. Damit wird auch das gegenseitige Verhältnis zwischen den beiden Zielsetzungen der praktischen Thanatologie des Hesychasmus umrissen. Sie erscheinen nicht mehr als Gegensätze. Solange die Welt des Menschen eine weltliche Struktur bewahrt, bleibt der Tod für ihn ein unbedingter Feind und ein Übel. Die asketische Annahme des Todes ist keinesfalls eine Akzeptanz des Phänomens des Todes, als welcher er gegeben und im geschaffenen Sein anwesend ist! Der Mensch soll nicht sterben, wenn in ihm „alles durch die Todesangst entstellt ist“: Vor dem Tod ist es für den Menschen geistlich unumgänglich, seine Beziehung zum Tod zu verändern. Diese Änderung kann ihn zur Annahme des Todes führen; aber man muss hier unterstreichen, dass sowohl ihr Weg als auch ihr Resultat nichts mit den bekannten stoischen und zu ihnen hinführenden „geistlichen Übungen“ gemein haben, bei denen man sich um die Erarbeitung einer „philosophischen Akzeptanz des Todes“ bemüht. Wie wir uns überzeugt haben, ist die hesychastische Annahme des Todes ihrem Wesen nach eine gnadenhafte Umformung der Todesangst in eine Akzeptanz des „Lebens durch den Tod hindurch“, die außerhalb Christi undenkbar und prinzipiell durch irgendwelche speziellen Übungen – durch Todestraining – unerreichbar ist. Sie ist keinesfalls ein losgelöstes und selbstständiges Ziel und reift im christozentrischen hesychastischen Streben als eine seiner mystischen Früchte und füllt so die Schatzkammer der eschatologischen Erfahrung der Kirche.
Übersetzung aus dem Russischen: DDr. Johann Krammer

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