Die orthodoxe monastisch-asketische Tradition, die  seit alters her die Bezeichnung „Hesychasmus“ oder „heiliges Schweigen“  trägt, erfreut sich eines besonderen Status in der Orthodoxie. „Die  Erfahrung des Mönchtums blieb immer der eigentliche Kern der Orthodoxie“  (Erzpriester Ioann Meyendorf, Kirche, Gesellschaft, Kultur in der  orthodoxen kirchlichen Tradition: Die Orthodoxie in der heutigen Welt.  New York 1981, S. 226), schreibt der große zeitgenössische Erforscher  dieser Tradition Vater Ioann Meyendorf. Die im Hesychasmus geschaffenen  und bewahrten Richtlinien, die Prinzipien der Beziehung des Menschen zum  Sein, zum eigenen Leben und zur eigenen Person sind seit langem im  allgemeinorthodoxen Bewusstsein als Orientierung und Muster für jeden  Christen anerkannt worden, als ein solches Muster, das nur einigen  gegeben ist zu verwirklichen, dem aber jeder entsprechend seinen Kräften  folgen soll. In den Schlüsselproblemen der religiösen Weltanschauung  stellen die Positionen des Hesychasmus in der Regel die Quintessenz, den  Kern der gemeinsamen Positionen der orthodoxen Glaubenslehre dar, wenn  man laterale Momente ausschließt und nur Hauptsächliches und Tiefes  beibehält, es jedoch mit besonderem Nachdruck beibehält. Daher ist es  natürlich zu erwarten, dass im Problem des Todes, das zweifellos zu  diesen Schlüsselproblemen gehört, die hesychastische Askese ebenso ihre  leitende Rolle bewahrt und eine echt orthodoxe Haltung sowohl zum  Phänomen des Todes, als auch zum Ereignis des jedem lebenden Menschen  bevorstehenden persönlichen Todes zum Ausdruck bringt.
Wie wir uns in diesem Vortrag bemühen werden  aufzuweisen, sind diese Erwartungen selbstverständlich gerechtfertigt.  Sich davon zu überzeugen, erweist sich jedoch als nicht so einfach. Wenn  wir die Zeugnisse der asketischen Texte durchsehen, entdecken wir in  der Ökonomie der Haltung eines orthodoxen Asketen zum Tod eine Reihe  bemerkenswerter Momente und Motive, die auf den ersten Blick ganz und  gar nicht zu den gemeinsamen Charakteristika der christlichen  Weltanschauung gehören, sondern eher irgendwelche spezifischen und sogar  sonderbaren Eigenschaften und Tendenzen des hesychastischen  Bewusstseins darstellen. Wir bemerken, dass an Stelle des im Christentum  üblichen und organischen Leitmotivs einer Feindseligkeit gegenüber dem  Tod, eines Kampfes mit ihm und eines Sieges über ihn in den Aussprüchen  der Asketen sehr häufig eine gewisse Liebe zum Tod durchklingt, ein  Hingezogensein zu ihm, was in der heutigen Geisteswelt sofort mit dem  Todestrieb assoziiert wird, den die Psychoanalyse im Menschen  konstatiert. In den Phänomenen des geistlichen Lebens treten die  eigentlichen Triebkräfte und Zusammenhänge nur selten auf den ersten  Blick zu Tage. Wenn wir tiefer in die praktische Thanatologie  des Hesychasmus eindringen, kommen wir zum Schluss, dass die Annahme des  Todes, die eines seiner Charakteristika ist, mit einem  psychoanalytischen Impuls nichts gemeinsam hat. Diese Annahme des Todes –  sie ist ursprünglich und zutiefst in ihrer Natur christologisch – tritt  als spezifischer Grenzbereich in der Haltung des Christen zu seinem Tod  zu Tage, als ein solcher Grenzbereich, der nur auf den höchsten Stufen  der hesychastischen Stufenleiter des Aufstieges zur gnadenhaften  Vergöttlichung erreicht wird.
Die Überwindung des Todes. Das Evangelium  Christi ist die Frohbotschaft des Sieges über den Tod. Das ist der  Eckstein des christlichen Glaubens, und seine Ecksteinfunktion ist in  allen Bereichen der christlichen Lehre unzerstörbar verankert – in der  Exegese, Gotteslehre, Liturgik usw. Der Tod ist der schlimmste Feind,  der den Menschen für das ganze Leben zu versklaven vermochte (Hebr  2,15), und das Heilswirken Christi besteht gerade darin, dass Er den Tod  bezwang (2 Tim 1,10), „um durch Seinen Tod den zu entmachten, der die  Gewalt über den Tod hat, nämlich den Teufel“ (Hebr 2,14). Christus ist  die Erfüllung der Prophezeiung des Jesaja: „Er beseitigt den Tod für  immer“ (Jes 25,8; 1 Kor 15,54), und gemäß der Frohbotschaft Christi muss  der Feind, der für uns der Tod ist, vernichtet werden (1 Kor 15,26).  Diese Grundfesten der Thanatologie der Evangelien und der Kirche  überhaupt bleiben auch die unbedingte Norm für die asketische  Einstellung zum Tod, und sie werden immer von neuem mit herrlichen  Worten von den Lehrern der orthodoxen Askese bestätigt. „Tod und  Verwesung sind Früchte der Sünde... eine Strafe für die erste  Übertretung Adams“, schreibt der hl. Simeon der Neue Theologe und darauf  fährt er fort: „Gott ist gekommen, das Todesurteil zu vernichten. Der  Tod, der jetzt zertreten und durch die Auferstehung Christi zu Schanden  gekommen ist, wird nach der allgemeinen Auferstehung völlig aufgehoben  sein“ (Ehrwürdiger Simeon der Neue Theologe. Aussprüche. Übersetzung des  Bischofs Feofan. Bd. 1. Moskau 1992, S. 44, 56). Der russische  Hesychasmus übernimmt das Zeugnis des byzantinischen Hesychasmus: „Wir  befinden uns auf Erden, um durch Glauben, Buße und Kreuz den Tod zu  töten, der uns getötet hat“ (Bischof Ignatij Brjančaninov. Werke. 3.  Aufl., Bd. 3. St. Petersburg 1905, S. 183), sagt der hl. Ignatij  (Brjančaninov) in seinem „Wort über den Tod“. Das erste der angeführten  Zeugnisse wurde an der Schwelle der hesychastischen Renaissance in  Byzanz formuliert, das zweite in der Morgenröte der russischen  hesychastischen Renaissance.; und so bestätigen diese beiden sehr  wichtigen Perioden im Leben der hesychastischen Tradition  übereinstimmend ihre Treue zu den Prinzipien der christlichen  Unversöhnlichkeit mit dem Tod und zur geistlichen Aufgabe seiner  Überwindung. In der hesychastischen Literatur sind derartige Zeugnisse  zahlreich, und die angeführten Beispiele könnten ohne Mühe mit weiteren  ergänzt werden.
Die Annahme des Todes. Jede Askese ist eine  extreme anthropologische Praxis, in welcher der Mensch die Grenzen  seiner Natur erprobt und sich mit dem Äußersten der menschlichen  Existenz konfrontiert. In diesen Praktiken entstehen besonders enge und  tiefe Beziehungen zum Tod als der wichtigsten aller Grenzen, der  endgültigen Grenze der Existenz. Dabei entstand eine äußerst strenge  Askese und das dazu gehörige Bemühen vornehmlich auf dem Weg des  besonderen Umgangs des Asketen mit seinem Leib, mit Hilfe leiblicher  Enthaltsamkeit in einer strengen und häufig auch extremen Form. Diese  Somatik der Askese hat das asketische Bewusstsein ganz leicht auf den  Standpunkt des heidnischen anthropologischen Dualismus versetzt, der  eine scharfe ontologische Teilung des Menschen in ein göttliches Prinzip  der Seele (des Geistes) und einen zu nichts nützlichen, völlig  wertlosen Leib durchführt, welcher der Seele bloß als Bürde und Fessel  dient. Zu dieser Richtung gehörten zahlreiche und einflussreiche  geistige Bewegungen der Antike – gnostische, neuplatonische, orpheische  und manichäische Strömungen. Und solange die christliche Askese im  Stadium ihrer Ausformung war, ohne noch ihre reife Selbsterkenntnis auf  Grundlage der kirchlichen Dogmatik erlangt zu haben, waren die Elemente  einer dualistischen Tendenz in ihr sehr stark bemerkbar. In der Frage  der Einstellung zum Tod führte der anthropologische Dualismus naturgemäß  zur Apologie des Todes, zu seiner Rechtfertigung und sogar  Verherrlichung: Der Tod erschien hier als Ablegen der beschwerlichen  Fesseln des Fleisches, als Befreiung des im Menschen eingekerkerten  geistigen Prinzips und als Vereinigung des Menschen mit dem Göttlichen  (mit je nach Lehrmeinung unterschiedlichen Vorstellungen). Eine  derartige Apologie des Todes kann man sogar bei den kappadokischen  Kirchenvätern in ihren zweitrangigen Werken antreffen (ausdrucksvolle  Beispiele dafür werden im grundlegenden Werk über die Asketik von S.M.  Zarin angeführt; so sagt der hl. Basileios der Große: „Für den zum  höheren Leben strebenden Menschen ist das Verweilen im Leib schwerer als  jede andere Strafe und jedwedes Gefängnis“, wobei er hinzufügt, dass  nur „die Lösung der Seele von den Banden des Leibes“ das echte Leben  initiiert. – Siehe S.M. Zarin, Asketismus in der orthodox-christlichen  Lehre. 2. Auflage. Moskau 1996, S. 672). Aber allmählich wurden die  Elemente der heidnischen dualistischen Anthropologie überwunden und  beseitigt. Sie wurden durch eine vollständige Akzeptanz der in der Bibel  und in den Evangelien enthaltenen Anthropologie der Integrität  abgelöst, die den Menschen als Einheit sieht, in dem nach den Worten des  hl Gregorios Palamas „der Leib gemeinsam mit der Seele vergöttlicht  wird“ (Siehe Gregorios Palamas. Triaden zur Verteidigung der heiligen  Schweiger. Moskau 1993, S. 99). Dementsprechend finden wir im reifen  Hesychasmus praktisch keine Apologie des Todes, die vom heidnischen  Abscheu vor der Leiblichkeit und von der ontologischen Trennung von  Seele und Leib motiviert war.
Aber bei all dem verschwindet das Thema der Annahme  des Todes nicht völlig aus dem hesychastischen Diskurs. Schon außerhalb  jeglichen Einflusses des heidnischen Dualismus bleibt sie eine  augenscheinliche Komponente der Einstellung des Asketen zu seinem  eigenen Tod. So sagt Abba Isaak der Syrer: „Wer die Liebe Gottes  erreicht hat, will nicht mehr hier verweilen... Liebe ist süßer als  Leben... Die Freude in Gott ist stärker als das irdische Leben“ (Abba  Isaak der Syrer. Asketische Worte. Moskau 1993, 159,160). In diesen  Worten des Heiligen gibt es keine Spur einer dualistischen Trennung der  menschlichen Natur oder einer spiritualistischen Leibverachtung, sondern  in ihnen klingt eine tiefe, freudige Annahme des Todes an. Wir lesen  auch beim hl. Simeon dem Neuen Theologen: „Nach dem Kreuz und der  Auferstehung Christi begehren Christen den Tod“ (Ehrw. Simeon der Neue  Theologe, a.a.O., S. 48). Und im Anklang an diese Zeugnisse spricht 1000  Jahre später – schon in unserer Zeit – der hl. Siluan vom Athos einfach  und ungekünstelt, aber mit großer geistlicher Eindringlichkeit über  seine eigene Erfahrung von der Einstellung zum Tod: „Ich sitze und  denke: Ich möchte nicht sterben; und ich sage: ‚Herr, ich möchte nicht  sterben. Wenn jemand seine Eltern eine lange Zeit nicht gesehen hat,  geht er mit Freude zu ihnen, und Dich, barmherziger Herr, kennt meine  Seele, aber trotzdem möchte ich nicht sterben.’ Und ich bekomme eine  Antwort in meinem Inneren: Das ist deshalb, weil du Mich nur wenig  liebst“ (Mönchspriester Sofronij, Starez Siluan. Moskau 1991, S. 419).  Dieses „Nicht-Wollen“, das in den Worten des Heiligen ausgedrückt ist,  erscheint in seiner weiteren Erfahrung übrigens als völlig aufgehoben  und überwunden: „Meine Seele hat sich dem Tod genähert und empfindet den  starken Wunsch, den Herrn zu sehen... Mein Geist verzehrt sich, den  Herrn in der Herrlichkeit zu sehen“ (A.a.O., S. 448, 447). Hier ist die  spirituelle Erfahrung unseres Zeitgenossen mit der Erfahrung der alten  Asketen völlig identisch, und das Motiv der hesychastischen Akzeptanz  des Todes, die Todesfreude, tritt mit aller Klarheit zu Tage.
Die Lösung der Antinomie. Es stellt sich die  notwendige Frage: Wie sind diese zwei Leitmotive der Thanatologie des  Hesychasmus – erstens das allgemein kirchliche und zweitens das  spezifisch asketische – miteinander verbunden? Ihr Widerspruch ist klar  zu sehen; die Feindseligkeit dem Tod gegenüber ist bewusst nicht  dasselbe wie die Todesfreude. Um ihre Beziehung zueinander zu verstehen,  muss man sich noch einmal und noch aufmerksamer den Selbstzeugnissen  der Tradition zuwenden. In ihnen enthüllt sich für uns deutlich die  Natur dieser echten Verbindung von Gegensätzen; der Widerspruch wird von  gegenseitiger Ergänzung und Harmonie abgelöst.
„Die monastische Religiosität ... ist vor allem die  hesychastische Religiosität“, schrieb Vater Alexander Schmemann (Current  spirituality. Orthodoxy // The Study of Spirituality. Ed. by C. Jones,  G. Wainwright, E. Yarnold. Cambridge 1986, p. 522). Die hier  angesprochene eschatologische Ausrichtung hat einen direkten Bezug zu  unserem Problem und ist ein Schlüssel dafür. Die eschatologische Färbung  des hesychastischen Bewusstseins äußert sich auch in seiner Einstellung  zum persönlichen Tod: Für das Bewusstsein des Asketen ist sein Tod ein  geistliches Ereignis, das untrennbar mit der eschatologischen  Wirklichkeit der Auferstehung Christi und der erwarteten allgemeinen  Auferstehung verbunden und verknüpft ist. Dabei ist jedoch entscheidend,  dass diese eschatologische Erfülltheit des persönlichen Todes nicht von  sich selbst aus automatisch gegeben ist, sondern im geistlichen  Aufstieg gefunden werden muss, da sie eine der höchsten und innersten  Früchte der Askese ist. So sagt der Mönchspriester Sofronij: „Bis der  Mensch seine Auferstehung in Christus erlangt, solange ist in ihm alles  durch die Todesangst und folglich durch die Knechtschaft der Sünde  verunstaltet“ (Mönchspriester Sofronij, a.a.O., S. 98). Diese Worte des  Starzen sind für uns wegweisend: Durch sie können wir zu den Wurzeln der  hesychastischen Annahme des Todes gelangen.
An erster Stelle spricht der Starez hier über die  „Auferstehung des Menschen in Christus“. Dieser Begriff ist aus der  orthodoxen Eschatologie bekannt, er bedeutet „Pfand und Anfang“,  „gleichsam ein Same“ (Ausdrücke des hl. Bischofs Feofan des Klausners)  der Auferstehung des Menschen vor der allgemeinen Auferstehung, durch  die geistliche Erfahrung der Teilhabe am auferstandenen Christus.  Sofronij weist auf einen weiteren Aspekt dieses Begriffes hin: Die  Erlangung der „Anfangsgründe der Auferstehung“ vertreibt die Angst vor  dem Tod, die – was ebenfalls wichtig ist – ein verzerrtes Prinzip des  gesamten menschlichen Inneren ist, was die Versklavung an die Sünde  bezeugt. Ihm folgend ziehen wir den Schluss: Wenn aus Gnade die  entstellende Wirkung der Todesangst überwunden ist, beginnt sich eine  neue innere Struktur zu bilden, der auch eine andere Einstellung zum Tod  entspricht. Der Charakter dieser neuen Einstellung erklärt sich daraus,  dass ihm die Teilhabe an der Auferstehung Christi zu Grunde liegt, die  Erfahrung des Mitsterbens und Mitauferstehens mit Christus: Im Lichte  dieser – ganz und gar christozentrischen – Erfahrung hört der Tod eben  auf, jenes geistliche Ereignis zu sein, welches die angeführten  asketischen Zeugnisse beschrieben haben. Er erscheint als helles  Ereignis, das den Asketen durch den Tod in das Leben Christi führt, und  somit als verdienter Gegenstand der hesychastischen Annahme des Todes  und der Todesfreude. Damit wird auch das gegenseitige Verhältnis  zwischen den beiden Zielsetzungen der praktischen Thanatologie des  Hesychasmus umrissen. Sie erscheinen nicht mehr als Gegensätze. Solange  die Welt des Menschen eine weltliche Struktur bewahrt, bleibt der Tod  für ihn ein unbedingter Feind und ein Übel. Die asketische Annahme des  Todes ist keinesfalls eine Akzeptanz des Phänomens des Todes, als  welcher er gegeben und im geschaffenen Sein anwesend ist! Der Mensch  soll nicht sterben, wenn in ihm „alles durch die Todesangst entstellt  ist“: Vor dem Tod ist es für den Menschen geistlich unumgänglich,  seine Beziehung zum Tod zu verändern. Diese Änderung kann ihn zur  Annahme des Todes führen; aber man muss hier unterstreichen, dass sowohl  ihr Weg als auch ihr Resultat nichts mit den bekannten stoischen und zu  ihnen hinführenden „geistlichen Übungen“ gemein haben, bei denen man  sich um die Erarbeitung einer „philosophischen Akzeptanz des Todes“  bemüht. Wie wir uns überzeugt haben, ist die hesychastische Annahme des  Todes ihrem Wesen nach eine gnadenhafte Umformung der Todesangst in eine  Akzeptanz des „Lebens durch den Tod hindurch“, die außerhalb Christi  undenkbar und prinzipiell durch irgendwelche speziellen Übungen – durch  Todestraining – unerreichbar ist. Sie ist keinesfalls ein losgelöstes  und selbstständiges Ziel und reift im christozentrischen hesychastischen  Streben als eine seiner mystischen Früchte und füllt so die  Schatzkammer der eschatologischen Erfahrung der Kirche.
Übersetzung aus dem Russischen: DDr. Johann Krammer
