Mittwoch, 13. Juli 2011

Zum 68-jährigen Jubiläum des Todestages von Alexander Schmorell




„Vergeßt Gott nicht!“


In Verbindung mit dem Totengedenken für den am 13. Juli 1943 hingerichteten Alexander Schmorell überreichte uns dessen in München lebender Bruder Dokumente und Briefe, die von dem tiefen Glauben und der kirchlichen Verbundenheit Schmorells mit unserer Münchner Gemeinde zeugen. Der damalige Münchner Gemeindepriester und spätere Erzbischof von Berlin und Deutschland, S.E. Alexander, besuchte A. Schmorell im Gefängnis. 
Aus den Briefen erkennen wir, wie aufrichtig Alexander als Christ seinen Weg beschritt. Einem solchen Menschen mußte jegliche Loyalität gegenüber einem Gott und menschenverachtenden System fremd sein. Keiner Wunder also, daß er es strikt ablehnte, ein Gnadengesuch an die damaligen Machthaber zu stellen. 

Alexander Schmorell ist einer der Begründer der „Weißen Rose“, einer nicht nur in Deutschland bekannten Widerstandsgruppe gegen das nationalsozialistische Regime. Alexanders Vater, Dr. Hugo Schmorell, wuchs in Orenburg (Sibirien) auf, studierte Medizin in München und arbeitete zu Beginn des 1. Weltkrieges als Assistent am Institut für Innere Medizin in Moskau. Sein Professor war angesichts der wachsenden antideutschen Emotionen genötigt, ihn zu entlassen. In Orenburg heiratete Dr. Schmorell die Priestertochter Natalija Petrovna Vvedenskaja. Ein Jahr später, am 3./16. September 1917 wurde Alexander geboren und orthodox getauft. Bei einer Typhusepidemie starb ein Jahr darauf „Mama Talja“, die Mutter von „Schurik“ (russische Kosenamen, die heute noch in der Familie Schmorell verwendet werden). Der Vater schloß 1920 noch in Orenburg eine zweite Ehe mit der Tochter eines Brauereibestitzers, der aus Bayern stammte. 
Deshalb kam die Familie, die das im Bürgerkrieg lodernde Land verlassen hatte, nach München.
Der Vater hatte eine russische „Njanja“ (Amme) eingestellt, die Schurik und später den Bruder und die Schwester aus der zweiten Ehe (Erich und Natascha) aufzog. Feodosija Konstantinovna Lapschina war eine sehr einfache Frau aus dem dort Romanovka (Gouv. Saratov). Sie sang bei der Beerdigung der Mutter Schuriks. Um ihr die Ausreise zu ermöglichen, wurde sie als Witwe des verstorbenen Bruders von Hugo Schmorell eingetragen und verwandelte sich in Franziska Schmorell. Diese „Njanja“ teilte vierzig Jahre lang in der Fremde Freude und Leid der Familie. Das Grab der „Franziska“— Feodosija befindet sich wenige Schritte vom Grab Alexanders entfernt auf dem Friedhof „Perlacher Forst“, gleich neben dem Hinrichtungsort Alexanders, dem Münchner Gefängnis Stadelheim.
 
Die Liebe Alexanders zur Orthodoxie und zu Rußland, zum orthodoxen Rußland, ist gezeichnet von seiner Liebe zur Mutter und zu „Njanjuschka“ — einer kirchlichen Frau. Der Bruder und die Schwester Alexanders, Erich und Natascha, waren katholisch, aber Russisch blieb die Sprache der Familie. Das findet seinen Niederschlag im Verhör bei der Gestapo: 
„Diese Angaben können bei meinen Eltern und bei dem vorhandenen Hauspersonal jederzeit überprüft werden. In diesem Zusammenhang gebe ich zu, daß im Haushalt meiner Eltern fast nur russisch gesprochen wird“ (26.02.43, S. 5). 
Vom Priester der Münchner Gemeinde erhielt Alexander Schmorell Religionsstunden. 
„Ich selbst bin ein streng gläubiger Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche“, sagt er später im Verhör (01.03.43, 5. 19 Rücks.). 
Nach der Einnahme Berlins durch die Sowjettruppen, wurden die Akten der „Weißen Rose“ nach Moskau verbracht. Während die übrigen Akten später nach Berlin zurückkehrten, wurde 
die Akte Schmorell in Moskau zurückgehalten. Sie wurde dort vor einigen Monaten in den Archiven entdeckt. Der in Deutschland aufgewachsene junge Emigrant Alexander, in dessen Adern russisches und deutsches Blut floß, sah sein Leben im Lichte des höheren geistigen Lebens. Zunächst fühlte er sich, wie übrigens auch die anderen Mitglieder der „Weißen Rose“, von der nationalen Wiedererweckung gerade kraft der dort verkündeten Ideale angezogen, rückte aber dann, wie die anderen, davon ab. Es ist für die damalige historische Situation charakteristisch, daß die Einstellung Alexander Schmorells zu den Vorgängen in Deutschland sich nur allmählich, Schritt für Schritt herausbildete. Doch war dieser Weg gerade und stetig. Alexander vermerkt in der ersten Vernehmungsniederschrift: „Im Sommer dieses Jahres hätte ich mein Studium als Arzt beendet“ (Abschnitt: „Persönliche Verhältnisse“). Aber dieses Jahr brachte nicht den erfolgreichen Universitätsabschluß, sondern eine höhere Erfüllung: die Vollendung der Bildung des inneren Menschen, besiegelt durch den Tod eines Gerechten. Als Alexander 1937 das Gymnasium beendet hatte, kam er sogleich zum Arbeitsdienst. Er wurde zunächst ein Jahr als Kanonier ausgebildet, kam dann für ein halbes Jahr zur Sanitätsschule und wurde als Unteroffizier entlassen, um in Hamburg und daraufhin in München Medizin zu studieren. Alexander sagt: 
„Als ich im Jahre 1937 zum deutschen Heer eingezogen wurde (ich rückte freiwillig ein), habe ich den Treueeid auf den Führer geleistet. Ich gestehe ganz offen, daß ich schon damals innere Hemmungen hatte, diese aber auf das ungewohnte Militärleben zurückführte und hoffte in der Folgezeit eine andere Gesinnung zu bekommen. In dieser Hoffnung habe ich mich bestimmt getäuscht, denn ich geriet schon nach der kürzesten Zeit in Gewissenskonflikte, wenn ich überlegte, daß ich einerseits den Rock des deutschen Soldaten trage und andererseits für Rußland sympathisierte. An den Kriegsfall mit Rußland habe ich damals nicht geglaubt“ (Akte Schmorell, 5.5 ums. u. 6). 
Alexander Schmorell in einer Vorlesung
Hier ist, lt. Hinweis des Bruders, eine Korrektur angebracht, weil Alexander die Akzente hier und bei der Beschreibung dessen, wie er erfolglos die Armee verlassen wollte, verschiebt. Nicht „Freiwilligkeit“ leitete ihn beim Eintritt in den Arbeitsdienst, sondern der Wunsch, das Unvermeidliche rascher hinter sich zu bringen, dann aber stieß er auf die Notwendigkeit, den Führereid zu leisten, was er rundweg ablehnte. 
Die dem jungen Mann freundlich gesinnten Vorgesetzten wandten sich an seinen Vater und erklärten ihm die Gefährlichkeit der Situation. Gemeinsam erreichten sie dann, daß Alexander den Eid „auf den Führer“ leistete. Der Vorfall selbst wurde dann mit einer „Nervenkrise“ wegerklärt. Vertiefte Beschäftigung mit der russischen Literatur bestärkte Alexander noch mehr in seiner Liebe zum russischen Volk. Nachdem er 1940 in einer Sanitätsabteilung an der Westfront in Frankreich gedient hatte, verbrachte er endlich im Sommer 1942 als Feldwebel einer Sanitätseinheit drei Monate in Rußland. Unmissverständlich erklärt er: hätte er den Befehl zum Kampfeinsatz erhalten, 
dann hätte er verweigert, aber „als Sanitätsfeldwebel ist mir eine solche Meldung erspart geblieben“ 
(Akte, 5. 6 ums.). Im gleichen Sommer beschlossen A. Schmorell und Hans Schall gegen den Nationalsozialismus aufzustehen (Es ergibt sich aus den Verhören, daß nur diese beiden die Initiatoren der „Weißen Rose“ waren, aber man sollte bedenken, daß Alexander nicht wußte, wo die anderen Teilnehmer waren, daß sie zu diesem Zeitpunkt bereits hingerichtet waren — unter ihnen sein nächster Freund Christoph Probst, von dem er hier die Anklage abzuwenden sucht). Insgesamt wurden vier „Flugblätter der Weißen Rose“ herausgegeben und dann, nachdem die Studenten Prof. Huber herangezogen hatten, noch ein Aufruf „An alle Deutschen“. Anfangs waren dies nur hunderte, bald aber tausende von Flugblättern, die auf dem Territorium des Reiches zur Verbreitung kamen. Um sie zu verschicken, fuhr A. Schmorell mit dem Zug nach Österreich, zur Herstellung erwarb er ein Vervielfältigungsgerät. Die Freunde malten auch Aufrufe wie „Nieder mit Hitler!“ und „Freiheit!“ an Wände und Geschäfte in München. Die Gestapo sucht Verbindungen zu ausländischen Mächten festzustellen. 
„Ich bekenne mich zum Hochverrat, — sagt Alexander, — lehne es aber ab, mich auch landesverräterisch betätigt zu haben“ (26.02.43, S. 5 ums.= Akte S. 17 ums.). Die Flugblätter der „Weißen Rose“ setzen christliche Werte und Kultur der nazistischen götzendienerisch-heidnischen Barbarei entgegen. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ,regieren‘ zu lassen…“ — so beginnt das erste der Flugblätter der „Weißen Rose“, die ausdrücklich an die höchste Gabe Gottes, den freien Willen appellieren. Daher der Aufruf:„verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine“ (Nr. 1). Der Widerstand ist „heiligste Pflicht eines jeden Deutschen“, nicht nur aus Mitleid zu den Opfern, sondern aus Mitschuld: „Denn er gibt durch sein apathisches Verhalten diesen dunklen Menschen erst die Möglichkeit so zu handeln, er leidet diese 'Regierung', die eine so unendliche Schuld auf sich geladen hat, ja er ist doch selbst schuld daran, daß sie überhaupt entstehen konnte! Ein jeder will sich von einer solchen Mitschuld freisprechen, ein jeder tut es und schläft dann wieder mit ruhigstem, bestem Gewissen. Aber er kann sich nicht freisprechen, ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig! Doch ist es noch nicht zu spät…“ (Nr. 2). 
„Verbergt nicht eure Feigheit unter dem Mantel der Klugheit! Denn mit jedem Tag, da ihr zögert, da ihr dieser Ausgeburt der Hölle nicht widersteht, wächst eure Schuld gleich einer parabolischen Kurve höher und immer höher“ (Nr. 3).“Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge: Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhaftester Weise des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan. Sein Mund ist der stinkende Rachen der Hölle und seine Macht ist im Grunde verworfen. Wohl muß man mit rationalen Mitteln den Kampf wider den nationalsozialistischen Terrorstaat führen; wer aber heute noch an der realen Existenz der dämonischen Mächte zweifelt, hat den metaphysischen Hintergrund dieses Krieges bei weitem nicht begriffen. Hinter dem Konkreten, hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren, hinter allen sachlichen logischen Überlegungen steht qas Irrationale, d.i. der Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrists. Überall und zu allen Zeiten haben die Dämonen im Dunkeln gelauert auf die Stunde, da der Mensch schwach wird, da er seine ihm von Gott auf Freiheit gegründete Stellung im ordo eigenmächtig verläßt, da er dem Druck des Bösen nachgibt, sich von den Mächten höherer Ordnung loslöst und so, nachdem er den ersten Schritt freiwillig getan, zum zweiten und dritten und immer mehr getrieben wird mit rasend steigender Geschwindigkeit — überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten. Wohl ist der Mensch frei, aber er ist wehrlos wider das Böse ohne den wahren Gott, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, dem Sturme preisgegeben, wie ein Säugling ohne Mutter, wie eine Wolke, die sich auflöst.
 Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, daß ein anderer die Waffen erhebt, um Dich zu verteidigen?… Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von innen her zu erreichen…“ (Nr. 4). 
München, 1942: Sophie Scholl verabschiedet
Hubert Furtwängler, Hans und Alexander Scholl,
Naumann  und Alexander Schmorell
bei ihrer Abfahrt an die Front 
Die Erkenntnis der eigenen Schuld gehört zur Wiedererweckung und verpflichtet auch zum Kampf gegen Hitler, seine Helfershelfer, Parteimitglieder und Quislinge. „Mit aller Brutalität muß die Kluft zwischen dem besseren Teil des Volkes und allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt, aufgerissen werden“; deshalb rufen die Flugblätter auf, Gleichgesinnte zu suchen und zu vereinen. Andererseits: „Vergeßt auch nicht die kleinen Schurken dieses Systems, merkt Euch die Namen, auf daß keiner entkomme! Es soll ihnen nicht gelingen, in letzter Minute noch nach all diesen Scheußlichkeiten die Fahne zu wechseln und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre“ (Nr. 4). Der Aufruf zum „passiven Widerstand“ auf allen Lebensgebieten — im Kulturellen, Wirtschaftlichen, Militärischen — scheute auch das furchtbare Wort „Sabotage“ nicht. Solches war die „Schuld“ Alexander Schmorells vor dem NS-Moloch am Tage seiner Verhaftung, dem 24. Febrar 1943. Zufällig hatte er am 18. Februar von der Verhaftung Hans Scholls erfahren und versuchte sofort über die Berge zu fliehen, aber als er die Unmöglichkeit des Unternehmens sah, kehrte er mit anderen Plänen nach München zurück (hierbei stützte er sich auf Freunde aus russischen Emigrantenkreisen, was er in den Verhören verbirgt). Was er aber nicht rechtzeitig erfuhr: an diesem Tag erschien sein Foto in den Zeitungen mit
der Aussetzung einer Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen würden. Er wurde während eines Fliegeralarms von Luftschutzwarten erkannt und festgenommen. 
„Vorweg will ich wieder unterstreichen, daß ich meinem Denken und Fühlen nach mehr Russe als Deutscher bin, Ich bitte aber zu beachten, daß ich deshalb Rußland nicht mit dem Begriff Bolschewismus gleichsetze, im Gegenteil ein offener Feind des Bolschewismus bin“, sagt Alexander bei der zweiten Vernehmung (26.02.43, S. 1) und zeigt, daß der Krieg mit Rußland ihn vor zwei Aufgaben stellte: einerseits „wie die Vernichtung des Bolschewismus möglich und die Verhinderung von Landverlust für Rußland möglich wäre“, und andererseits wie das deutsche Volk zu schützen sei: „Schließlich habe ich auch einen Teil deutschen Blutes in mir, das im gegenwärtigen Krieg massenhaft zugrunde gerichtet wird“. Ergebnis: „In der gegenwärtigen Zeit konnte ich mich also nicht damit begnügen nur ein stiller Gegner des Nationalsozialismus zu sein, sondern ich sah mich in der Sorge um das Schicksal zweier Völker verpflichtet, meinen Teil zur Veränderung der Verfassung des Reiches beizutragen.“ Hierbei gilt: „Was ich damit getan habe, habe ich nicht unbewußt getan, sondern ich habe sogar damit gerechnet, daß ich im Ermittlungsfalle mein Leben verlieren könnte. Über das alles habe ich mich einfach hinweggesetzt, weil mir meine innere Verpflichtung zum Handeln gegen den nationalsozialistischen Staat höher gestanden ist“ (26.02.43, S. 1 & ums.). Klar, ruhig, ausgewogen ist auch das eigenhändig am 8. März 1943 abgefaßte „Politische Bekenntnis“. Hier legt er dar, wie er sich eine Regierung vorstellt, die auf das Vertrauen des Volkes baut: sie soll „seine Führerin“ sein, aber den Willen des Volkes achten, die eigenen Fehler erkennen und korrigieren und folglich auch die Opposition anerkennen, die diese Fehler aufzeigt. Seine Überlegungen zur Rolle der „Intelligenz(schicht)“, die unbedingt mit dem Volk „verwachsen sein muß“, spiegeln russische Erfahrungen wider. Politik ist für Alexander sekundär, primär ist die geistig-ethische Dimension. „Ich bin deshalb auf keinen Fall ein entschiedener Verfechter der Monarchie, der Demokratie, des Sozialismus, oder wie alle die verschiedenen Formen heißen mögen. Was für das eine Land gut ist, sogar das beste, ist für das andere Land vielleicht das verkehrteste, das ihm am wenigsten entsprechende. Überhaupt sind ja alle diese Regierungsformen nur Äußerlichkeiten“ (Akte, S. 30). Was Rußland betrifft, so unterstreicht A. Schmorell „als Russe“ (wie mußte das für die Gestapo aus dem Munde eines Halbdeutschen klingen!), daß er das Zarentum für die beste, ja „die einzig mögliche Staatsform“ ansieht. „Ich will damit nicht sagen, daß die Staatsform wie sie in Rußland bis 1917 geherrscht hat mein ideal war — nein. Auch dieser Zarismus hatte Fehler, vielleicht sogar sehr viele — aber im Grunde war er richtig. Im Zaren hatte das russische Volk seinen Vertreter, seinen Vater, den es heiss liebte — und mit Recht. Man sah in ihm nicht so sehr das Staatsoberhaupt, als vielmehr den Vater, Fürsorger, Berater des Volkes — und wiederum mit vollem Recht, denn so war das Verhältnis zwischen ihm und dem Volk. Nicht in Ordnung war in Rußland fast die ganze Intelligenz, die die Fühlung mit dem Volke vollständig verloren hatte und sie nicht mehr fand. Aber trotz dieser todkranken Intelligenz, also auch der Regierung halte ich für Rußland als die einzige richtige Form den Zarismus“. Hiermit kontrastiert Alexander die Machtbesessenheit des NS-Regimes, die es unfähig macht, „reine Ausdrucksform des Volkswillens“ zu sein, „mit dem Volksdenken mitzugehen“. Man beachte: „Ich bin sogar geneigt, der autoritären Staatsform fast immer vor der demokratischen den Vorzug zu geben. Denn wohin uns die Demokratien geführt haben, haben wir alle gesehen. Eine autoritäre Staatsform bevorzuge ich nicht nur für Rußland, sondern auch für Deutschland. Nur muß das Volk in seinem Oberhaupt nicht nur den politischen Führer sehen, sondern vielmehr seinen Vater, Vertreter, Beschützer. Und das, glaube ich, ist im nat.soz. Deutschland nicht der Fall“. diese deutsche Regierung bezichtigt er, daß sie durch Gewalt Land ergreift und das eigene Volk an die Spitze anderer Völker setzen will. Nahezu wörtlich zitiert er F. M. Dostojevskijs eschatologisch-ethische Perspektive vom „erlösenden Wort“ (Christus in der Orthodoxie) aus dessen Puschkin-Rede (1880), wenn er schreibt: „Ein Volk ist wohl berechtigt, sich an die Spitze aller anderen Völker zu stellen und sie anzuführen zu einer schließlichen Verbrüderung aller Völker — aber auf keinen Fall mit Gewalt. Nur dann, wenn es das erlösende Wort kennt, es ausspricht, und dann alle Völker freiwillig folgen, indem sie die Wahrheit einsehen und an sie glauben. Auf diesem Wege wird, dessen bin ich sicher, schließlich eine Verbrüderung ganz Europas und der Welt kommen, auf dem Wege der Brüderlichkeit, des freiwilligen Folgens. Sie können sich vorstellen, daß es mich besonders schmerzlich berührte, als der Krieg gegen Rußland, meine Heimat, begann. Natürlich herrscht drüben der Bolschewismus, aber es bleibt trotzdem meine Heimat, die Russen bleiben doch meine Brüder. Nichts sähe ich lieber, als wenn der Bolschewismus verschwände, aber natürlich nicht auf Kosten des Verlustes so wichtiger Gebiete, wie sie Deutschland bisher erobert hat, die ja eigentlich fast das ganze Kernrußland umfassen… es ist direkt ein Verbrechen, wenn man seinem Vaterlande gegenüber in einem solchen Falle andere Gefühle entgegenbrächte. Das würde doch besagen, daß man ein heimatloser Mensch ist, irgendein internationaler Schwimmer, bei dem es sich nur darum dreht, wo es ihm am besten geht“ (Akte, S. 30-31 — Herv. v. A. Sch.). Auf der Innenseite eines Briefumschlages schrieb Alexander einen Brief nach Gatsk, an das russische Mädchen Nelli, das er dort im Sommer 1942 kennengelernt hatte. Der Brief erreichte die Empfängerin nicht — die Sowjettruppen waren bereits in Gatsk. Der Brief wurde aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt, wahrscheinlich vom Priester. Schurik schreibt in der alten russischen Orthographie und nennt sich „Sascha“, Hans Scholl — „Wanja“. 

„18.6.43
Liebe Nelli! 

Früher als wir alle dachten war es mir bestimmt, dieses irdische Leben zu verlassen. Wir — Wanja und andere arbeiteten gegen die deutsche Regierung, man hat uns gefangen und zum Tode verurteilt. 
Ich schreibe Dir aus dem Gefängnis. Oft, sehr oft denke ich an Gatsk! Warum bloß bin ich damals nicht in Rußland geblieben?! Abder das alles ist der Wille Gottes. Im jenseitigen Leben werden wir einander wieder begegnen! Leb wohl, liebe Nelli! Und bete für mich! 

Dein Sascha“
 
Alexander lehnte es ab, ein Gnadengesuch einzureichen. Diesem System das Recht zuzugestehen über sein Leben zu verfügen, es auch nur indirekt anzuerkennen, konnte er nicht, wollte er nicht.
In Stadelheim wurde dem Gefangenen frühmorgens mitgeteilt, daß er an diesem Tag hingerichtet würde. Die Hinrichtung fand um fünf Uhr abends statt. Am Hinrichtungstag schrieb Alexander seinen Eltern und durch sie allen Nahestehenden den letzten Brief: 

München, 13.7.43 
Meine lieben Vater und Mutter!
 

Nun hat es doch nicht anders sein sollen und nach dem Willen Gottes soll ich heute mein irdisches Leben abschließen, um in ein anderes einzugehen, das niemals enden wird und in dem wir uns alle wieder treffen werden. Dies Wiedersehen sei Euer Trost und Eure Hoffnung. Für Euch ist dieser Schlag leider schwerer als für mich, denn ich gehe hinüber in dem Bewußtsein, meiner tiefen Überzeugung und der Wahrheit gedient zu haben. Dies alles läßt mich mit ruhigem Gewissen der nahen Todesstunde entgegenzusehen. Denkt an die Millionen von jungen Menschen, die draußen im Felde ihr Leben lassen — ihr Los ist auch das Meinige. Grüßt alle meine lieben Bekannten herzlichst! Besonders aber Natascha, Erich, Njanja, Tante Toni, Maria, Aljenuschka und Andrej.
In wenigen Stunden werde ich im besseren Leben sein, bei meiner Mutter und ich werde Euch nicht vergessen, werde bei Gott um Trost und Ruhe für Euch bitten.
Und werde auf Euch warten!
Eins vor allem lege ich Euch ans Herz: Vergeßt Gott nicht!!!
Euer Schurik.
Mit mir geht Prof. Huber, von dem ich Euch herzlichst grüßen soll!“ 


Er konnte noch Vater Alexander (Lowtschy), den Priester der Münchner Gemeinde, zu sich rufen. Beichtete, empfing das HI. Abendmahl, nahm Christus in sich auf. Die letzten Stufen Ihm nach..:
Die Hinrichtung erfolgte durch das Fallbeil.
N.A
Brief A. Schmorells 1941 (d.h. vor Beginn des Krieges mit Rußland) an Angelika Probst, Schwester seines Freundes Christoph Probst, der zusammen mit den Geschwistern Scholl hingerichtet wurde. Alexander schildert darin seine Eindrücke nach dem Besuch des Gottesdienstes am PalmSonntag (nach westl. Kalender Ostern) in der russischen Gemeinde.
 

„München, 14. April 1941
 
Liebe Angelika!
 
Ich war gestern in der russischen Kirche. Mir zog's mein Herz zusammen, als ich hinten in einer Ecke stand und auf all die Unglücklichen schaute. Wo bleibt da Gottes Gerechtigkeit, wo? Kannst Du es mir sagen, Angeli? Als ich zur Kirche fuhr, stand einfaches Volk, der Pöbel, Spießbürger, am Ostersonntag schon vormittags an den Kinoeingängen Schlange. Stinkender Mob! Warum haben diese trostlosen Geschöpfe Arbeit, Brot, ein Heim, eine Heimat und warum fehlt es diesen Menschen, die ich heute in der Kirche sah? Auch unter ihnen war viel einfaches Volk, aber gutes, kostbarstes. Es sind doch alles Menschen, die einst, um der Unfreiheit zu entgehen, ihre Heimat verlassen haben, die Ungeheures gewagt und geleistet haben, nur um einer verhaßten Idee nicht dienen zu müssen. Und gerade das einfache Volk, das ich heute sah, gerade das war das kostbarste. 
Sie flohen ja nicht, um Geld, Juwelen zu retten, wie viele Reiche, nein, sie flohen, um ihre und ihrer Kinder Freiheit zu retten. Wo fand sich jemals ein Beispiel, daß ein solch ungeheurer Teil eines Volkes den Mut aufbrachte, alles aufzugeben, was sie das ihre nannten, und zu fliehen, zu fliehen vor einer Versklavung? Wo bleibt da jetzt der so oft gepriesene Mut der Deutschen? Mit vieler Mühe gründeten dann die meisten von ihnen in Frankreich ein schlichtes, ärmliches, aber doch ein Heim. Und wieder trieb sie ein ungeheuer grausames Schicksal in ein fremdes Land. Schon 22 Jahre beten sie. Auch jetzt, wo sie zum zweiten Mal verjagt worden sind, sie glauben immer noch, sie kommen alle immer noch in die Kirche und beten und hoffen. Weshalb schickte ihnen Gott, den sie mehr lieben, als je ein anderes Volk, so ungeheuer viel Schweres, warum ist das Schicksal so ungeheuer grausam? Kleine Kinder von 3 und 4 Jahren, sie knieten nieder, beteten, küßten die Heiligen Bilder.
Müßte nicht ein einziges Gebet solch eines Kindes schon genügen, um alle Vergehen eines Volkes zu vergeben? Hier standen sie vor mir und beteten und glaubten. Ist denn das Glauben nicht das wichtigste? Woran — wer weiß es denn? Zeige mir ein Volk, zeige mir Menschen, die mehr glauben als diese, die nach 22 Jahren fruchtlosen Betens noch glauben! Sie glauben nicht an Gerechtigkeit. Wie lange schon müßte da Rußland erlöst sein! Aber sie glauben an ihr Gebet, daran, daß Gott sie erhören werde, und sie hören nie auf zu glauben. Und doch ist das Schicksal gegen niemand so grausam, wie gegen die Gläubigsten aller Menschen. Mögen sie viele andere Fehler haben, so viele, wie kein anderer Mensch, aber sie haben ja auch einen Glauben und eine Liebe, wie kein anderer Mensch. Ist das nicht das Kostbarste? Müssen da nicht sämtliche anderen Fehler verziehen werden?
Ich stand in einer dunklen Ecke, sah all die Unglücklichen, und manche Träne rollte mir über die Wange. Ich schämte mich ihrer nicht. Sag, Liebste, schickt Gott denen, die ihn lieben, immer das grausamste Los? Warum?
"

Brief Alexander Schmorells an seine jüngere Schwester Natalie.
Geschrieben aus der Todeszelle im Gefängnis, 11 Tage vor der Hinrichtung.


"München 2.7.1943

Meine liebe, liebe Natascha!

Du hast die Briefe, die ich an die Eltern geschrieben habe, sicher gelesen, so daß Du ziemlich
Bescheid weißt. Du wirst Dich vielleicht wundern, wenn ich Dir schreibe, daß ich innerlich von Tag zu Tag ruhiger werde, ja sogar froh und fröhlich, daß meine Stimmung meistens besser ist, als sie es früher, in der Freiheit war! Woher kommt das? Das will ich Dir gleich erzählen: Dieses ganze harte „Unglück“ war notwendig, um mich auf den wahren Weg zu bringen — und deshalb war es eigentlich gar kein Unglück. Vor allem bin ich froh und danke Gott dafür, daß es mir gegeben war, diesen Fingerzeig Gottes zu verstehen und dadurch auf den rechten Weg zu gelangen. Denn was wußte ich bisher vom Glauben, vom wahren, tiefen Glauben, von der Wahrheit, der letzten und einzigen, von Gott? Sehr wenig! Jetzt aber bin ich soweit, daß ich auch in meiner jetzigen Lage, froh und ruhig, zuversichtlich bin — mag kommen, was da wolle. Ich hoffe, daß auch Ihr eine ähnliche Entwicklung durchgemacht habt und daß Ihr mit mir zusammen nach den tiefen Schmerzen der Trennung auf dem Standpunkt angelangt seid, wo Ihr für alles Gott dankt.
Dieses ganze Unglück war notwendig, um mir die Augen zu öffnen — doch nicht nur mir, sondern uns allen, all denen, die es getroffen hat — auch unsere Familie. Hoffentlich habt auch Ihr den Fingerzeig Gottes richtig verstanden.
Grüße alle herzlichst, besonders sei aber Du gegrüßt

von Deinem Schurik 

Quelle: Der Bote — der deutschen Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland. Ausg. 4/1993 






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