Montag, 11. Januar 2010

Archimandrit Tikhon spricht über seinen Fim "Der Fall eines Imperiums"


Archimandrit Tikhon im Gespräch mit dem Neo-Magazin.

Wie kamen Sie auf die Idee zu dieser Dokumentation?

Archimandrit Tikhon: Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal die Möglichkeit hatte Konstantinopel zu besuchen, war ich von dem was ich sah beeindruckt. Selbst so viele Jahrhunderte nach dem Fall, erkannte man immer noch das Ausmaß und die Pracht dieses christlichen Imperiums. Die Analogie zur russischen Geschichte war mehr als offensichtlich, daher war ich sehr interessiert daran zu erfahren wie es geschehen konnte, daß dieses außerordentliche, aufgeklärte Imperium, welches alle anderen Völker der damaligen Zeit übertraf, plötzlich seine Lebenskräfte verlieren konnte und schließlich zusammenbrach. Warum verlor dieses große Reich, welches durch das Licht der Evangelien erleuchtet war, seine historische Heimat an einen anderen Staat und primitivere Menschen? Dieser Film entstand durch meine Reflexionen über die Geschichte von Byzanz und Rußland. Die Arbeiten an diesem Film dauerten eineinhalb Jahre. Die Idee bestand darin, zu klären, welcher Prozeß und welche Ursachen zu seiner Zerstörung führten und warum das Reich seine Fähigkeit zur Reaktion auf die Anforderungen der Geschichte verloren hatte. Zunächst bezog sich der Hauptteil meiner Forschungen auf die historischen Tatsachen im Zusammenhänge dieser Angelegenheit.

In diesem Land [den USA], vor allem innerhalb der letzten zehn Jahre, konnten wir eine Einmischung von Anhängern bestimmter christlicher Sekten in die Politik, die die Trennung von Kirche und Staat gefährden, sowie Kompromisse die teilweise unwiderruflich die Integrität des Christentum gefährden feststellen. Gibt es eine ähnliche Situation in Rußland? Tatsache ist, daß Sie durch die Freigabe der Film direkt vor den russischen Präsidentschaftswahlen in diesem Sinne beschuldigt wurden.


Archimandrit Tikhon: Ja, derartige Vorwürfe werden gegen den Film vorgebracht. Einige sagen, der Film würde Putins Nachfolger unterstützen, während andere sagen, er richte sich gegen diese. Ich schenke einer derartigen Kritik keine Aufmerksamkeit.
Es gab auch Kritik, der Film würde die byzantinische Geschichte durch die Einführung von Begriffen wie „Oligarchen“ und „korrupte Politiker“ modernisieren. Ja, das ist wahr. Die Geschichte wurde bewußt rekonstruiert durch die Verwendung unserer Realitäten und Terminologie und dadurch bekam ein großen Publikum den Film zu sehen. Dennoch, alle Tatsachen die in dem Film dargestellt werden sind absolut wahrheitsgetreu. Es gab aber auch beispielsweise Kritik, daß kein Wort über den westlichen, arroganten Begriff der „byzantinischen Hinterlist“ gesagt wurde. Dies war der offensichtliche Versuch der Westeuropäer nach dem vierten Kreuzzug, ihre Opfer, die Griechen, als bösartig darzustellen, um sich selbst zu rechtfertigen. Es wäre angemessener davon zu reden, wie selten die einfachen Einwohnern des mittelalterlichen Westeuropas die Motive und das Verhalten des hoch entwickelten byzantinischen Staates verstanden. So wie ein Bewohner einer Großstadt einem einfachen Jungen vom Lande listig erscheinen mag.


Erzbischof Demetrios von Amerika sprach bei seinem jüngsten Besuch in Rußland, von der „Entkirchlichung der Menschen“ in den USA und anderen westlichen Gesellschaften. Ist die heutige Orthodoxie noch in der Lage „ihre Sprache zu sprechen“, kann sie noch eine spirituelle und doch realistische Alternative darstellen?



Archimandrit Tikhon: Nach 80 Jahren des militanten Atheismus, haben die Russen einzigartige Erfahrungen gesammelt, nicht nur für die Erhaltung der Orthodoxie unter den Bedingungen eines totalitären Staates, sondern auch eine aktive zeitgenössische orthodoxe Mission innerhalb der eigenen Nation, in einer Gesellschaft, die oft als „post-christlich“ bezeichnet wird. Die wichtigsten Träger des orthodoxen Geistes wurden die neuen Märtyrer und Bekenner Rußlands. Einige von ihnen haben sogar bis in unseren Tagen hinein gelebt. Einer von ihnen, Archimandrit John (Krestiankin), war mein geistiger Vater, der die stalinistischen Lagern durchlebte. Er blieb ungebrochen und war bis zum Ende seines Lebens ein Beispiel für größte christliche Liebe und Glauben. Er besaß auch das wunderbare Geschenk der Erkenntnis, welches die Heiligen Väter als Krone des spirituellen asketischen Lebens bezeichnen. Seine bemerkenswerten Hirtenbriefe wurden kürzlich veröffentlicht (sie wurden auch bereits ins Englische übertragen) und wurden zu Tausenden in Rußland verbreitet. Die Problematik der missionarischen Arbeit in der russischen Kirche ist von größter Bedeutung. Ich möchte dazu sagen, daß wir nach und nach die richtige Sprache der Kommunikation mit den modernen, ekklesiologisch ungebildete Personen finden, dies bezeugen auch die Millionenfachen Auflagen unserer missionarischen apologetischen Broschüren und Bücher. Im Sretensky Kloster, das sich im Zentrum von Moskau befindet, sind die Hälfte der Gemeindemitglieder unter 40 Jahre alt. Sie sind Studenten aus den Universitäten, Schüler, Beamte, Wissenschaftler, Arbeiter, und Kulturschaffende. Als Antwort auf den letzten Teil Ihrer Frage möchte ich sagen, daß für diese Menschen ― wie zu allen Zeiten ― die Evangelien und die Heiligen Väter eine spirituelle und realistische Alternative zu der korrupten, säkularen Welt, einer Welt die ohne Gott zunehmend sinnloser wird, darstellen.
Auch wenn wir dachten dieses Phänomen sei bereits lange verschwunden, viele dieser „entkirchlichten Menschen“ und auch viele der „kirchlichen“, sehen in einer Form von New Age eine „spirituelle“ Alternative. Magier, Astrologen, Wahrsager und Zauberer sind in Mode gekommen, ein Phänomen welches an Europas dunkle Zeiten erinnert. Derzeit besteht ein Vakuum, welches die etablierten Religionen offenbar nicht ausfüllen können. Fällt die nicht auch ein Teil der religiösen Orthodoxie in die gleiche Kategorie?



Archimandrit Tikhon: Bereits seit Anfang der 90er Jahre arbeiten wir an diesem Problem, das ist nichts grundsätzlich Neues. Das Gleiche geschah in Byzanz, vor allem während der Periode des Niedergangs. Das Spektrum war sehr breit: von den anspruchsvollen heidnischen Lehrern wie Georgios Gemistos Plethon bis zu einem vulgär-blasphemische Aberglauben. Im heutigen Rußland sind wir mit Gottes Hilfe in der Lage, unserer Herde die Unvereinbarkeit von jeder Art des Aberglaubens mit dem Leben der Kirche zu überzeugen. Obwohl diese Krankheit natürlich hier und da örtlich begrenzt auftritt, leidet die Kirche als Ganzes betrachtet nicht darunter.

Die Leute sagen, daß die Orthodoxie, trotz all ihrer Schönheit und den transzendenten Qualitäten, in vielerlei Hinsicht veraltet ist. Es scheint so, daß die Entwicklung, so wie bei den Amish People, vor Jahrzehnten stehengeblieben ist. Anderseits werden Anstrengungen zur Modernisierung mit Mißtrauen und Feindseligkeit betrachtet. Als zu einer neuen Generation von Priestern gehörend, und ― was ich noch hinzufügen möchte ― als ein sehr talentierter Filmemacher, wie denken Sie über diese entscheidende Frage?

 
Archimandrit Tikhon: Wir stehen vollkommen im Einklang mit der Lehre der ewig jungen Kirche der großen griechischen Väter. Rußland befindet sich in einer Zeit, in der sehr viele Menschen zur Kirche finden, vor allem junge und gut ausgebildete Menschen. Der russische Athosmönch Starez Siluan schrieb bereits in den 1930er Jahren darüber. Er sprach über die Zukunft Rußlands, daß eine Zeit kommen werde, in der die meisten gebildeten Menschen zu Gott finden werden. Was die Modernisierung der Orthodoxie betrifft (ich möchte betonen, daß diese sich nur auf die rituelle Seite der Kirche und nicht evangelisch-patristische Seite bezieht), so ist diese an das Leben und die Zeiten gebunden, notwendige Änderungen finden in den äußerlichen Bereichen des kirchlichen Lebens statt. Das Wichtigste ist, daß diese Reformen für das Leben selbst wahrhaft notwendig sind und mit Liebe für die Orthodoxie eingeführt werden müssen, und nicht mit hochgeistiger Verachtung für Routine und orthodoxe Begrenztheit. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, daß diese [Ver-]Änderungen auf eine Art vorgenommen werden müssen, die dem Spirituellen Rechnung trägt, und nicht in oberflächlicher, primitiver oder gemeiner Weise. Sonst würde die Kirche sich grausamen Teilungen und Leiden ausgesetzt sehen.

Obwohl Sie nicht zu der „Anti-Griechenland“-Gruppe innerhalb der russischen griechisch-orthodoxen Kirche gehören, können bestimmte Punkte in Ihrem Dokumentarfilm als dem Hellenismus gegenüber feindlich gesinnt betrachtet werden. Gibt es Ihrer Meinung nach eine orthodoxe, katholische und apostolische Kirche, ohne das griechische Element, ohne die energischen Kirchenväter und die griechische Tradition, von der die frühere Kirche tief durchdrungen war? 



Archimandrit Tikhon: Ich muß zugeben, daß ich nun zum ersten mal von einer „Anti-Griechenland“-Gruppe innerhalb der Russischen Kirche höre. Die überwiegende Mehrheit der Russen hat immer die griechische Kirche als ihre geistigen Mutter betrachtet, der wir das Gefühl aufrichtiger Liebe und Ehrfurcht entgegenbringen. Griechische heilige Väter und fromme Asketen, vom Hl. Johannes Chrysostomos, dem Hl. Paissios dem Agioriten sind in Hunderttausender Auflagen auf Russisch veröffentlicht worden. Sehr viele Studenten der theologischen Institutionen lernen die alte und auch die moderne griechische Sprache. Die russische Kirche ist eng mit der spirituellen Tradition der griechischen Kirchenväter verknüpft. Wie in dem Film dargestellt, besteht neben vielen anderen Ursachen auch ein Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch des Reiches und dem traurigen Phänomen des sich vor allem in den letzten Jahren unter den Griechen in Byzanz verbreitenden Neuheidentums. Dies ist auch für moderne Rußland ein wichtiges Thema, da das Neuheidentum seinen häßlichen Kopf auch hier erhebt. Es ist eine Feststellung, daß aufgrund vieler Faktoren die herrschende Elite von Byzanz, schrittweise ihre Grundlagen zur Herrschaft sowie ihre geistigen Grundlagen und Traditionen verleugnete und später sogar ihre göttliche Berufung. Ähnliche Prozesse haben auch in Rußland stattgefunden und es ist äußerst wichtig für uns die Folgen derartiger Prozesse in der Geschichte zu erkennen. In dem Film wird klargestellt, daß einerseits der griechische Nationalismus dem Reich einen großen Schaden zugefügt hat, so daß aus ehemaligen Freunden Feinden wurden. Leider geschieht das gleiche in Rußland. Beim Nachdenken über die Gegenwart, sollten uns diese traurigen historischen Fakten helfen. Der russische Historiker Kliuchevsky sagte: „Geschichte ist nicht wie eine Art alter Lehrer, sondern sie ist ein strenger Lehrmeister, sie erteilt uns keinen Unterricht, sondern sie ahndet jede Fahrlässigkeit auf grausamste Art.“


Die Kirchen Rußlands und anderer osteuropäischer Staaten leiden unter den Aktivitäten des Uniats, ein sehr heimtückischer Prozeß, der durch den Vatikan sanktioniert ist, in dem zwar der Schein gewahrt bleibt, aber der Glaube sehr wesentlich bedroht wird. Dies ist eines der größten Hindernisse für einen Dialog zwischen dem schismatischen Rom und dem Ökumenischen Patriarchat ― aber was für eine Art von Dialog soll man auch mit jemandem führen der von sich behauptet unfehlbar zu sein. Was denken Sie darüber?

Archimandrit Tikhon: Ich komme kurz noch einmal auf den Film zurück. Viele Kritiker warfen dem Film vor, er sei „anti-westlich“. Das ist nicht wahr. Zwei Dinge über den römisch-katholischen Westen werden dort sehr deutlich erklärt: „Natürlich ist es unsinnig zu behaupten, der Westen sei Schuld für das Unglück und den Fall von Byzanz. Der Westen verfolgte lediglich seine eigenen Interessen, was ganz natürlich ist. Byzanz historischer Kampf ereignete sich als die Byzantiner ihre eigenen Prinzipien auf denen ihr Reich aufbaute selber verrieten … Die Byzantiner waren vermutlich an dem Punkt, daß der Westen nur noch die vollständige und bedingungslose religiöse und politische Unterwerfung benötigten. Nicht nur der Papst wurde als unfehlbar anerkannt, sondern auch der Westen selbst. Diese beiden Postulate ―  die Exklusivität der eigenen Interessen und die Unfehlbarkeit — haben sich offenbar bis heute in der Politik des Vatikans nicht geändert. Es wäre naiv, zumindest diese beiden konstanten Grundlagen des römischen Katholizismus an dieser Stelle nicht zu berücksichtigen. Da diejenigen, die sich heute für die Uniaten aussprechen, beispielsweise für die Autokephalie der ukrainischen Kirche, vergessen, daß dies in der Tat ein Teil der Arbeit des alten römisch-katholischen Projektes ist, welches im 16. Jahrhundert in der Ukraine, während der tragischen Union von Brest ausgegoren wurde. Später, im Jahre 1914 schrieb der Führer der ukrainisch-griechischen Katholiken Metropolit Andrei Sheptitsky in einem Brief an Kaiser Franz Joseph, daß im Hinblick auf eine römisch-katholische Ukraine, es notwendig sei, daß diese sich von der russischen Kirche zu einem „Orthodoxen Patriarchat Kiew-Galitsch" käme, um dann kurz darauf in den „Schoß der katholischen Kirche“ durch den griechisch-katholischen Prozeß aufgenommen zu werden. Natürlich könnte man es in den Worten von Heraklit ausdrücken, daß „man niemals den Fuß zweimal in den gleichen Fluß setzten [sollte]“ Das ist natürlich richtig, … aber Sie können ganz leicht in ein und dieselbe Pfütze springen.

Welche Botschaft möchten Sie an die griechisch-orthodoxen Menschen in Amerika, zu Beginn des in diesem Jahre stattfindenden Kongreß für Klerus und Laien richten?


Archimandrit Tikhon: Vieles von dem was für mich und auch viele andere Priester innerhalb der russischen Kirche wichtig ist wurde bereits in dieser Diskussion gesagt. Ich würde nur gerne noch hinzufügen, daß unsere Erfahrung vom Leben und dem Zeugnis der Kirche in der Zeit eines totalitären Regimes nicht nur uns gehört, sondern der gesamten orthodoxen Kirche. Ihre Erfahrung der kirchlichen Existenz in einer pluralistischen Gesellschaft ist für uns sehr wichtig, wie auch Ihre Erfahrungen innerhalb des pastoralen Dienstes. Beispielsweise haben wir keine jährlichen Konferenzen von Geistlichen und Laien, wie Sie in Amerika. Diese Tradition und Erfahrung wäre äußerst interessant und wichtig für uns. Die griechische Orthodoxie war seit jeher für Rußland nicht nur ein Lehrer, sondern sie stellte auch eine besondere spirituelle Orientierung dar. Also machen wir schätzen unsere spirituelle Einheit in unserem Herrn und Erlöser Jesus Christus und seine heilige Kirche.





Archimandrit Tichon (Schevkunov), 52 Jahre, Vorsteher des Moskauer Sretenski-Klosters


Übersetzung: Gregor Fernbach


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