Donnerstag, 14. Januar 2010

Priester Rafail Karelin: Mystik als sichtbarer Glauben



Wodurch unterscheidet sich die Mystik von der Religion? Die Mystik repräsentiert die Erfahrung der Ewigkeit, die Wahrnehmung einer höheren Realität und das Gefühl, daß es ein geheimnisvolles Wesen jenseits dem Fluß der Zeit gibt. Ein Wesen, daß sich hinter den Grenzen der materiellen Welt befindet und doch gleichzeitig die Materie durchdringt und erhellt. Die Mystik ist das Erlebnis jenes geheimnisvollen Treffens mit Demjenigen für den menschliche Gedanken nicht wahrnehmbar und körperliche Gefühle unerreichbar sind, mit anderen Worten: unausdrückbar sind. Wer uns gleichzeitig nah und undendlich fern ist, wer höhere Evidenz[1] im Moment des Treffens hervorbringt, zugleich aber stets unfaßbar bleibt, wer uns sucht aber dennoch wünscht, daß wir Ihn suchen, wer das höchste Glück für den Menschen ist, aber um Ihn zu besitzen, muß man auf das eigene Selbst verzichten und seinen Geist unterwerfen. Wenn man einen Mystiker nach dem Namen Gottes fragt, dann sagt er: der erste Name ist, der Existierende und der zweite ist der Unfaßbare.
Religion und Mystik sind untrennbar; sie richten sich an das Wesen und die Persönlichlichkeit des Menschen als Ganzes. Die Mystik öffnet den Weg und gibt die Mittel zur ewigen Kommunikation mit Gott. Die Grundlage der Religion ist die Offenbarung, welche durch den Glauben angenommen wird. Die Religion aber gibt jene Kenntnisse, die durch die mystischen Erfahrungen bestätigt werden. Der Glaube offenbart Gott als eine Persönlichkeit und bestimmt die Bedingungen, unter denen sich das Endliche mit dem Unendlichen durch Erleuchtung mit dem göttlichen Licht vereinigen kann.
Die Offenbarung ist an die drei Kräfte der Seele gerichtet: den Verstand ― die Dogmatik, den Willen ― die Gebote und Regeln der Kirche und an die spirituelle Wahrnehmung ― den Gottesdienst und das Gebet. Die Mystik ist somit die Wurzel und gleichsam das Herz der Religion. Ohne die Mystik zerfällt die Religion: die Dogmatik wird zur Philosophie, das Einhalten der Gebote Gottes wird zur äußerlichen Anpassung an die Normen der gesellschaftlichen Moral, und der Gottesdienst wird zur Ästhetik. Außerhalb der Mystik repräsentiert die Kirche eine sozial-historische Institution.

Ohne die Religion (gemeint ist hier die Orthodoxie) verbleibt die Mystik in einem subjektiven, amorphen Zustand. Da die spirituelle Welt in sich das geistige Böse enthält, welches sich in den gefallenen Engeln konzentriert, führt die Mystik, wenn diese sich außerhalb der Religion befindet oder mit anderen Religionen vereint ist, den Menschen zum Dämonismus. Deswegen ist die Zugehörigkeit zur Orthodoxen Kirche, dem höchsten Kriterium der spirituellen Wahrheit, für uns so wichtig. Theosophie und Ökumenismus sind für uns daher eine freiwillige Entwaffnung vor den Mächten des kosmisch Bösen und der dämonischen Lüge.
Die orthodoxe Mystik basiert auf der spirituellen Wahrnehmung des Mysterium und der Ehrfurcht vor dem Schöpfer der Welt und auf eine bestimmte Weise auch auch vor Seinen Geschöpfen, in denen der Mystiker den Schatten der Göttlichkeit erblickt. Mystik ist untrennbar mit der Askese verbunden, denn die Erbsünde, welche die gesammte Menschheit befallen hat, zeigt sich in den dämonischen Impulsen und Leidenschaften.
Der Mensch ist eine Synthese des Guten und des Bösen, des Erhabenen und des Niederen, des Engelhaften und des Dämonischen. Er befindet sich in einem ständigen Zustand des inneren Kampfes mit sich selbst. So ist er Kreuzung der auf seine Seele handelnden dunklen und hellen Mächte. Sein Wille gleicht daher einem Pendel, welches zwischen zwei Polen pendelt ― dem Guten und der Sünde. Des Menschen Herz ist ein kostbares Juwel, welches er Gott schenken oder aber dem Satan geben kann. Deshalb braucht ein Mystiker Askese und die Obedienz[2] in der Kirche. Ohne die Askese, welche die Leidenschaften der menschlichen Natur bezähmt und ohne die Obedienz der Kirche als Quelle der Initiation, bleibt er ohne Hilfe der Gnade, der einzigen Kraft, die imstande ist, die dämonischen Impulse in der Seele des Menschen zu zähmen.Klosterkirche auf dem Heiligen Berg / © Edition Hagia Sophia
Der Katholizismus hat den Begriff der Erbsünde entstellt und betäubt mit dieser den Menschen. Er reduzierte die Askese auf ein Minimum, ließ sie nur zum Gut sehr weniger Mönchsorden werden. Der Protestantismus betrachtet die Askese gewöhnlicherweise als eine Pathologie. Betrachten wir die Askese als ein Haus, so zerstörte der Katholizismus dessen Wände, während der Protestantismus die letzten Steine für den Bau weltlicher Häuser fortschaffte. Er ersetzte die Askese durch andere Begriffe: Mäßigkeit, Sorgfalt und Ordnung. Daher ist im Katholizismus wie auch im Protestantismus die Mystik zerstört oder deformiert worden. Im ersten Fall wird sie durch einen reinen Moralismus ersetzt, im anderen erhält sie einen okkulten Charakter. Heutzutage gewinnen unterschiedliche okkulte Strömungen und Schulen an Popularität.
Der Mensch, dessen mystische Wahrnehmungen verloren gegangen oder deformiert sind, reduziert die Religion auf einen Moralismus und kann daher gar nicht verstehen welcher Unterschied  zwischen der Orthodoxie, dem Katholizismus und dem Protestantismus besteht. Er hält sie lediglich für historische Traditionen und er empört sich darüber, daß die christlichen Konfessionen — wie auch alle anderen Religionen — nicht auf der Grundlage eines allgemeinen moralischen Prinzips vereinigt werden. Der Glaube an die Orthodoxie, als die einzige Möglichkeit der wahren, von der göttlichen Gnade erfüllten Verbindung mit Gott, hält er für einen Mangel an Liebe zu den Menschen, für einen konfessionellen Hochmut, Obskurantismus, und in einigen Fällen als eine Delinquenz[3] gegen die Menschheit. Wenn ein Juwelier keinen Unterschied zwischen Juwelen und einfachen Steinen erkennt und behauptet sie alle seien gleich, so würde man ihn als einen Delitanten bezeichnen. Die höchste Kenntnis eines Juweliers zeigt sich in der Kunst die Eigenschaften der Materialien zu unterscheiden und deren Wert bestimmen zu können.
Wenn einem Menschen alle Gegenstände in der gleichen Farbe gefärbt erscheinen würden, so sagt dies nichts über eine Vielzahl von Meinungen aus, nichts über die Scharfsichtigkeit seiner Augen, sondern lediglich über deren Sehschwäche. Würde ein Mensch behaupten, es gäbe zwischen den philosophischen Systemen keine Unterschiede, daß diese alle im Wesentlichen übereinstimmen, so würde man ihn einen Unwissenden nennen, dem die unterschiedlichen philosophischen Postulate nicht bekannt sind. An dieser Stelle behaupten wir folgendes: ohne die Mystik ist der orthodoxe Glauben nicht zu verstehen. Der Mensch der bar jeder Mystik ist, ist nicht orthodox, auch dann nicht, wenn er sich als ein solcher bezeichnet, vielmehr ist er ein Theosoph oder ein orthodoxer Rationalist.
Ohne Mystik und Askese ist es unmöglich, die Realität der orthodoxen Dogmen wahrzunehmen. Ohne das Bekenntnis zu den Dogmen und der Teilnahme an den kirchlichen Mysterien (Sakramenten), ist es schier unmöglich den Reichtum der Mystiker ― das Taborlicht ― zu emfangen.
Der falsche Mystiker sieht den Schein der höllischen Flamme vor sich, die danach trachtet, dessen Seele zu locken und in eine undurchdringliche Finsternis zu führen. Daher ist Gott für uns: das Leben des Lebens und das Licht des Lichtes. Die Orthodoxie ist für uns der geheimnisvolle Sinai, wo sich die Göttlichkeit dem Menschen offenbart, der Glaube ist die höchste Wahrheit und die Mystik ist die Evidenz[4] des Glaubens.

Übersetzung: Olga Miller
© der dt. Übersetzung: Edition Hagia Sophia


[1] Evidenz, von lat. e „aus“ und videre „sehen“ ― das Herausscheinende, bezeichnet das dem Augenschein nach Unbezweifelbare, das durch unmittelbare Anschauung oder Einsicht Erkennbare. Evident ist ein Sachverhalt, der ohne besondere methodische Aneignung klar und ersichtlich auf der Hand liegt. (Anm. d. Vlgs.).
[2] Obedienz lat. v. obedientia, bedeutet Gehorsam, Anhang. (Anm. d. Vlgs.).
[3] Delinquenz, von lat. delinquere, „sich vergehen“, ist die Tendenz rechtliche Grenzen zu überschreiten. (Anm. d. Vlgs.).

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