Dienstag, 19. April 2011

Sieben Wochen ohne Betäubung


...oder warum fasten die orthodoxen Christen

In den letzten Jahren ist Fasten zum Modetrend geworden. Das Große Fasten (Fasten vor Ostern) halten sieben Wochen lang nicht nur die orthodoxen Christen, sondern auch viele Atheisten. Das kann man auch nachvollziehen – nicht gläubige Menschen meinen, dass Fasten gesundheitliche Vorteile mit sich bringen würde, und sehen es als eine Diät an (so genanntes Heil-Fasten). 
Tatsächlich reduziert der Verzicht auf Nahrung tierischen Ursprungs das Gewicht, normalisiert die Verdauung und senkt den Cholesterin-Spiegel im Blut. Eben deshalb fasten heute auch sehr viele Menschen ohne religiösen Hintergrund. 
So weit ist alles klar: nicht gläubige Menschen fasten also, weil sie auf ihre Gesundheit achten. Warum aber fasten die Orthodoxen? Hat es eine besondere religiöse Bedeutung, dass auch auf ihrer Speisekarte sieben Wochen lang Fleisch und Milchprodukte fehlen?

Wie man beim Fasten nicht entweiht

Verzicht auf die eine oder andere Speise ist für Christen kein Selbstzweck. Es gibt viele Gründe, um sich ans körperliche Fasten nicht zu halten, zum Beispiel Schwangerschaft, Alter, Armut oder Krankheit. In vielen Fällen wird Patienten der Verzicht auf beim Fasten gemiedene Nahrung vom Arzt verboten, und die Kirche hat noch keinen dazu gezwungen, ärztliche Verordnungen nicht zu befolgen.
Die Meinung, dass Nahrung tierischen Ursprungs etwas Unreines wäre, etwas, was einen fastenden Christen entweihen kann, ist drastischer Aberglaube und nach dem Hl. Ignati Brjantschaninow vielmehr eine Entweihung des Evangeliums.
Leider findet man auch heute noch Gläubige, die eine derartige Einstellung zum Fasten haben. Hat einer beispielsweise Kekse oder Kuchen gegessen, und es stellt sich später heraus, dass sie mit Milch oder Eiern zubereitet waren, dann denkt er frustriert: "Wie konnte ich das nur tun! Jetzt ist das ganze Fasten umsonst gewesen!" Er ist fest davon überzeugt, dass der eigentliche Sinn des Fastens darin bestünde, ausschließlich Gemüse zu essen. Und in Wirklichkeit hat die Kirche das Fasten keineswegs in dieser Art ausgelegt.

Lasset uns ein wohlgefälliges Fasten halten

Das Fasten kann Gott nicht genehm sein, das Gebet kann von ihm nicht empfangen werden, solange unsere geistige Verbindung mit Gott nicht auch mit der Liebe zu den Menschen um uns herum verbunden wird. Ein tatkräftiger Ausdruck solcher Liebe wird bei den Christen Almosen genannt. Damit ist nicht nur die Ein-Euro-Münze gemeint, die wir dem Bettler in seinen Becher werfen. Almosen bestehen vielmehr darin, dass man sich von fremder Not berührt fühlt, dem hilft, dem es im Moment nicht gut geht, um des Anderen willen verzichtet. Hl. Johannes Chrysostomos hat das so formuliert: 
„Der Sinn des Fastens ist nicht, dass wir mit Nutzen für uns nicht essen, sondern, dass das, was für dich bestimmt war, der Arme statt dir isst. Du tust damit doppelt Gutes: du fastest selbst, und der andere leidet nicht Hunger“.
Fasten ist unser Opfer vor Gott. Und es muss nicht für uns wohlgefällig sein, sondern für Gott. So singt die Kirche am Beginn des Großen Fastens: 

„Lasset uns ein Fasten halten,
welches dem Herrn gebührt und wohlgefällig ist:
Entfremdung von bösen Taten,
Beherrschung der Zunge,
Enthaltung von Zorn,
Fernhalten von zwanghafter Begierde,
Verleumdung, Lüge und Meineid.
Die Freiheit von diesen Dingen
ist ein wahres Fasten“.*

Johannes Chrysostomos hat es sehr deutlich ausgedrückt: steige auf das einfachere, günstige Lebensmittel um und verwende das Geld, das durch diese Nahrungsumstellung übrig bleibt, zu Gunsten derer, die ärmer und unglücklicher als du sind. Genau das ist wohlgefälliges und Gott gebührendes Fasten, zu dem die Kirche den Christen aufruft.

Diät oder „Heldentat“?

Hl. Theophan der Einsiedler schrieb, dass unser Leben ohne Gott dem Hobelspan gleicht, der sich um die eigene Leere kräuselt. Der Mensch spürt diese Leere, sie liegt ihm schwer im Herzen und jagt ihm Furcht ein. Er bemüht sich krampfhaft, das bedrückende Gefühl von Sinnlosigkeit seines Lebens mit allen möglichen Vergnügen zu betäuben: mit Lieblingsfernsehsendungen, reichlichem Essen, Alkohol, Computerspielen. Er versucht nicht daran zu danken, dass der Tod ihm letztlich alle diese Betäubungsmittel wegnehmen wird, und dass dann die einzige für ihn erlebbare Realität Gott ist. Wird die Begegnung mit dem Schöpfer den froh machen, der sein ganzes Leben so naiv versuchte, sich vor ihm zu verstecken?
Man muss die Ordnung in der Seele schaffen, solange man lebt. Das ist eigentlich die tiefere Bedeutung des Fastens. Johannes Chrysostomos schrieb: 
„Also was hast du, Bruder, mit Hilfe des Fastens erreicht? Sag mir nicht: 'Ich habe so viele Tage gefastet, dies und das nicht gegessen, Wein nicht getrunken, der Unreinheit widerstanden', sondern zeige mir, ob du fromm geworden bist, wo du zornig warst, und ob du barmherzig geworden bist, wo du davor grausam warst, weil, wenn du durch Zorn trunken bist, wofür züchtigst du deinen Leib? Wenn innen Neid und Habgier sind, welcher Nutzen hat das Wasser trinken?“ 
Wenn der Gläubige während des Großen Fastens auf Fleisch, Wein und Vergnügen verzichtet, begeht er keine Heldentat. Er entscheidet sich, ohne diese geistige Betäubung zu leben, sei es auch nur sieben Wochen lang, um endlich in die eigene Seele hinein zu schauen. Und dort ist nicht mehr einfach nur Leere, sondern es hat sich viel Schmutz angesammelt, so wie es in manchen Ecken im Haushalt der Fall ist, in die wir selten sehen. 
Man muss versuchen, diesen geistigen Unrat zu entsorgen, innere Leere mit der Liebe zu Gott und den Nächsten zu füllen, Christus im Gebet um Hilfe bei dieser für einen Menschen allein zu schweren Arbeit zu bitten. Erst dann fängt Fasten an, eine wahre geistige Großtat zu sein und hört auf, nur Diät zu sein, die trotz ihrer gesundheitlichen Vorteile für den Körper absolut wertlos für die Seele ist.

* Mal`cev, Aleksej (Bearb.), Orthodoxer Gottesdienst: Bd. V: Triod, 2. Teil: Die große Fastenzeit, i. Zusam-menarb. m. d. VOM, ergänzte u. bearbeite Ausg. d. Übersetzung v. Erzpriester Aleksej Mal`cev, Gersau 2000. 

Alexander Tkatschenko. In: Zeitschrift "Thomas". Moskau, 2/2007. 

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